Sternenkind

Josephine Links – „Stilles Herz - Über den Verlust meines Kindes und die Kraft, neu zu leben“

von Hermann Schulz

Sternenkind
 
Daß der Tod auch schön sein könnte, daß in all der Trauer auch eine beruhigende Klarheit und Schönheit liegen würde ...“ Im Herbst des vergangenen Jahres besuchte ich meine Verwandtschaft im Wendland, die Orte meiner eigenen Kindheit. Den Termin hatte ich mit meinem Freund Christoph Links aus Berlin abgesprochen, der mit seiner Frau Luise im Ort Zeetze Urlaub machte, wo auch Verwandte von mir leben. Christoph und ich trafen uns, fuhren durch die Dörfer und machten Hält in einem Ort namens Schwiepke, den ich aus meiner Kindheit kannte.
Dort lebt seit einigen Monaten die Tochter von Christoph, Josephine Links, mit ihren zwei kleinen Söhnen Kolja und Milan und ihrem Mann. Josephine kam uns mit einem Kinderwagen entgegen. Darin saß ein überaus waches einjähriges Bübchen namens Milan (genannt Milo). Ich hatte selten ein Kind mit so wachen Blicken erlebt, so als würde er diese komische Welt der Erwachsenen längst durchschaut haben. Josephine lud uns zu einem Kaffee in ihre Wohnung. Auf ihrem Schreibtisch lag ein erst halb geöffnetes Paket, dem entnahm Fine ein Exemplar ihres neuen Buches und schenkte es mir: „Stilles Herz. Über den Verlust meines Kindes und die Kraft, neu zu leben“
Vom Schicksal ihres ersten totgeborenen Kindes wußte ich wenig. Da ahnte ich noch nicht, daß ich mich auf ein ergreifendes Lese-Abenteuer einlassen würde. Was diese Autorin schreibt, weist über ihren eigenen Schmerz und den Verlust weit hinaus. „Stilles Herz“ ist im besten Sinne ein Sachbuch, aber ebenso ein erstklassiges Werk.

Die Autorin nimmt uns mit an ihren Berliner Arbeitsplatz, wo Flüchtlinge aus aller Welt betreut werden, mit denen sie arabisch, englisch oder französisch spricht. Gleich zu Beginn ihres Buches treffen wir auf eine Frau aus einem arabischen Land, die sich strikt weigert, über sich Auskunft zu geben; schweigend lebt sie in ihrem Zimmer, alle Versuche, etwas von ihr zu erfahren, scheitern - bis sie, kurz vor der Entscheidung, ihr eine andere Bleibe zu bieten, tot aufgefunden wird. Sie hinterläßt einen Brief:
„Ich gehe zu meiner Familie. Es gibt keinen anderen Ort für mich. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Mein Körper wird von niemanden vermißt. Machen Sie sich damit keine Umstände. Gott schütze Sie, möge er mir eines Tages verzeihen. Samira. Syrische Staatsbürgerin.“

Josephine Links schreibt auf mehreren Ebenen über den Abschied von ihrer Tochter Milla. Die intensivsten Erfahrungen begegnen der Mutter beim letzten Treffen mit dem Körper ihres Kindes; zwei Stunden starker Momente, die sie mit ihrer Mutter Barbara und ihrer Schwester an der Seite erlebt, „Stunden voller Schmerz und auch Freude“. Denn Clara (so ihr Name im Buch) wird deutlich: „Ich bin jetzt eine Mutter! Der Wandlungsprozeß der Natur ist machtvoll! Und es gibt einzelne Momente, in denen ich spüre, daß alles mit allem verbunden ist, daß Leben Wachstum bedeutet und wachsen wehtut. Und daß es irgendwie auf seltsame Weise gut ist, genauso, wie es ist.“ Und an anderer Stelle im Buch: „Ich wünschte dort zu sein, wo Du bist!“

Ich mag in diesem Artikel nicht alle bewegenden Zitate aufschreiben, die ich mir notiert habe. Da geht es um ihren letzten Abschied von ihrer Tochter auf der Überfahrt zu einer Insel und ihrer Stärke, das Leben neu zu beginnen. Ihr bleibt das Bewußtsein, daß Milla auf der Erde gewesen ist und in der Nähe ihrer Mutter bleibt. Und der des Vaters! Am Abend, bevor ich diesen Text begonnen habe zu schreiben, sprach ich mit meinem Freund Peter Hohberger, dem Bildhauer, über mein Lese-Erlebnis und las ihm ein paar Zitate vor. Er hätte mir am liebsten das Buch aus den Händen gerissen und sprach von seiner gerade verstorbenen Frau Renate und ihren Verlust-Erfahrungen nach dem Unfall-Tod ihres Kindes.
Es gibt keine Skala über starke oder weniger starke Verluste! Wir haben alle Verluste zu bewältigen, weil sie zum Leben gehören. Das zu begreifen, dazu kann dieses wunderbare kluge Buch von Josephine Links „Stilles Herz“ ein großartiger Wegweiser sein!
 
Josephine Links – „Stilles Herz - Über den Verlust meines Kindes und die Kraft, neu zu leben“
© 2021 Beltz, 160 Seiten, gebunden – ISBN: 978-3-407-86675-2
17,- €
 
Weitere Informationen: www.beltz.de