Shakespeares Sonette oder der 2. Hauptsatz der Thermodynamik?

Ernst Peter Fischer – „Wider den Unverstand“

von Johannes Vesper

Shakespeares Sonette oder
der 2. Hauptsatz der Thermodynamik?*)
 
Wider den naturwissenschaftlichen Unverstand.
 
Eine Streitschrift Ernst Peter Fischers
 
Bildung und was sie ausmacht beherrschte die öffentliche Diskussion nicht nur in den beiden Jahren der Corona Pandemie. Mit Präsenzunterricht und Investitionen vor allem in digitale Endgeräte allein ist sie nicht zu retten. Bildung gilt als Schlüssel für die Integration und soll möglichst schon in der Kita beginnen. In seiner Streitschrift „Wider den Unverstand“ geht es Ernst Peter Fischer natürlich um viel mehr. In treibt wie schon Albert Einstein am 22.8.1930 um, wie „gedankenlos wir uns der Wunder der Wissenschaft und Technik bedienen und nicht mehr davon verstanden haben als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frißt“. Dem durchschnittlichen Nutzer des Mobiltelefons sind die technisch-physikalischen Grundlagen seines externen Gehirns, des Wischens, Tippens und Tappens, der zahllosen bunten Bilder in der Regel völlig unklar. Die moderne Welt, voll von Dingen, die nur dank Nuturwissenschaft und Technik existieren und funktionieren, sind dem „blödem Volke unverständlich“, was Christian Morgenstern auch schon vermutete. Das Problem ist nicht neu „Entfremdung“ spielte schon für Richard Wagner und Karl Marx eine zentrale Rolle bei der Interpretation gesellschaftlichen Verwerfungen ihrer Zeit infolge neuer bahnbrechender Errungenschaften von der Dampfmaschine bis zur Harnstoffsynthese. Im Text Fischers geht es aber um unsere Gegenwart. Daß mit den Bildungs- und Schulreformen der 60er Jahre unter Rekrutierung der letzten Bildungsreserve Bildung sich prinzipiell verändert hat und zur Aus-, Fort- und Weiterbildung mutierte, daß Gymnasien und Universitäten zu Berufsschulen wurden, dagegen zieht er der Autor zu Felde. Wenn „Bildung“ durch „Kompetenz“ ersetzt wird, dann müssen eben Lehrer cool die notwendige Inkompetenzkompensationskompetenz erwerben. Den Begriff schuf der Philosoph Odo Marquard bereits 1973. Fischer schreibt virtuos wie kenntnisreich gegen einen Bildungsbegriff bei uns an, der spätestens seit Schwanitz 1999 die Naturwissenschaften und ihre Geschichte nicht mehr umfaßt. Machen tatsächlich nur Geschichte und Literatur unsere Bildung aus? Natürlich muß die humanistische Bildung früherer Zeiten durchaus kritisch gesehen werden. Sie hat die Wahl Adolf Hitlers und die Beteiligung der damaligen Bildungselite an Nazi-Verbrechen jedenfalls nicht verhindert. Kernthema des Pamphlets ist, daß Analphabetismus sowieso, aber insbesondere der naturwissenschaftliche Analphabetismus bei uns angegangen werden müssen. Wie so oft könnten wir von Amerika lernen. Hält es doch der Philosoph John Searle für „unabdingbar, daß ein gebildeter Mensch unserer Zeit über die Atomtheorie der Materie und über die Evolutionstheorie der Biologie unterrichtet ist“. Fischer vermittelt darüber hinaus, welcher Zauber von naturwissenschaftlichen Fragen und ihren Lösungen ausgeht. Schwarze Löcher, Genetik, Gen-Scheren, vierdimensionale Raumzeit, unstetige Quantensprünge, Natur des Lichtes: Keiner wird alles verstehen, aber der große Physiker Niels Bohr glaubte jedenfalls ganz am Ende seiner Erkenntnisse erstmals zu verstehen, „was wir überhaupt meinen, wenn wir von Verstehen sprechen“.
 
Wenn wir weiterhin wie Einsteins Kühe Methan furzend durch unser Leben traben, wissen wir zu wenig von uns und von der Welt, von Energie, und den Grundlagen des anthropogenen Klimawandels. Ohne unser aller Mündigkeit in naturwissenschaftlichen Fragen wird die lebensnotwendige große Transformation zu einer klimaneutralem, nachhaltigem Gesellschaft kaum gelingen. Ob die Politik das schaffen kann? Einstein hat sich durch Rausstrecken seiner Zunge geäußert. Das berühmte Foto kennt jeder. Er befürchtete. daß demokratische Regierungen durch die Herrschaft der Dummen an die Macht kämen, denn sie seien in der Überzahl…“ Diese Deutung scheint nicht ganz falsch, denkt man an die sozialen Medien, Nachrichtenfälschung, Impfgegner, Querdenker, Verschwörungstheoretiker, an Trump, an Frau Le Pen und deren Wähler. . .
 
Während im öffentlichen Diskurs gefordert wird, daß die Wissenschaft besser kommuniziert, sich besser erklären müsse, und sogar ein Bundeskanzler von der „Bringschuld der Gelehrten“ gesprochen hat, hält Fischer Bildung für eine Bürgerpflicht. „Frage nicht was dein Land für dich tun kann, sondern, frage was du für dein Land tun kannst“ riet John F. Kennedy seinen Amerikanern. Übertragen auf Deutschland, müßte der Mensch für sich selbst Verantwortung übernehmen, sich selbst um Vorsorge kümmern, könnte sich nicht auf Kosten der Mitmenschen seinem Wohlleben und Konsum hingeben, wozu viele trotz wissenschaftlicher Warnungen in Pandemiezeiten immer noch rücksichtslos neigen. Und er müßte sich selbst um Bildung kümmern. Passive Beschulung reicht nicht! Bildung soll zum Verständnis der Welt, zur Teilhabe an der Kultur befähigen, nicht nur zur Teilhabe an der Konsum- und Spaßgesellschaft. Ein Recht auf Bildung einzufordern, erscheint billig. Eine Verpflichtung zu ihr ist angesagt. Der Autor hat sich in mehr als 70 Büchern zu Fragen und zur Geschichte der Naturwissenschaft geäußert, über die Hintertreppe zum Quantensprung, verholfen, Albert Einstein dem Leser als Pop-Ikone in der Westentasche auch menschlich nahe gebracht, die Biographie über Max Delbrück geschrieben, bei dem er auch am Caltec promoviert wurde um nur einige Titel anzusprechen. Fischer fasziniert den Leser mit seiner souveränen Darstellung auch hochkomplexer naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, spürt dem Zauber der Physik nach und lockert seine Schrift mit überraschenden Querverweisen zu Walter Benjamnin, Franz Kafka, natürlich Goethe auf. Seine persönliche Geschichte hemmt stellenweise vielleicht den Fluß der Streitschrift, die aber hinter Kimme und Korn präzise und exakt auf ihr Kernproblem zielt. Ob mehr Kürze des Textes die Wucht der Argumentation noch verstärkt hätte? „Sprachkürze gibt Denkweite“ meinte jedenfalls Jean Paul. Wie dem auch sei. Jedenfalls bietet der Autor wie immer ein Feuerwerk sprachlicher Eleganz und ein besonderes Lesevergnügen. Empfehlenswert.
 
Ernst Peter Fischer – „Wider den Unverstand“
Für eine bessere naturwissenschaftliche Bildung. 1. Auflage
© 2022 Hirzel-Verlag, 130 Seiten, kartoniert - ISBN 978-3-7776-3033-5 (Print)
(Auch als e-Book erhältlich)
20,- €
 
Weitere Informationen: https://www.hirzel.de