Ein Genie, wie man es selten trifft

E.T.A. Hoffmann † 25. Juni 1822 - Erinnerung an den 200. Todestag

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker

Ein Genie, wie man es selten trifft
 
E.T.A. Hoffmann † 25. Juni 1822 -
Erinnerung an den 200. Todestag
 
Von Heinz Rölleke
 
Der Jurist, Dichter, Märchenerzähler, Zeichner, Komponist, Dirigent, Musik- und Literaturkritiker von hohen Graden gehört auch heute noch in aller Welt zu den bekanntesten romantischen Künstlern. In seinen Dichtungen erschließt er die dunklen Bereiche, die Nachtseiten, der Natur, der menschlichen Seelen und Schicksale, in seinen Kompositionen findet er als erster einen typisch romantischen Ton, in seinen Musikkritiken entdeckt er vor Kierkegaard und Mörike die tragischen Tiefen in Mozarts Leben und Schaffen. Als Gespenster-Hoffmann wird er - vor allem im Ausland - rezipiert und begeistert gelesen. Einige Brände oder andere Katastrophen bei Aufführungen der Offenbach'schen Erfolgsoper „Hoffmanns Erzählungen“ schienen seinen Ruf sensationell zu bestätigen.
 
Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann wurde 1775 in Königsberg geboren, wuchs in zerrütteten familiären Verhältnissen auf, begann schon 1791 sein Jura-Studium, das er 1795 erfolgreich abschloss. Seitdem war er die meiste Zeit seines Lebens als Jurist im preußischen Staatsdienst tätig) u.a in Posen Königsberg, Berlin und Warschau. Sein Wirken wurde auf allen Stationen als „ausgezeichnet“ beurteilt, so daß er es schließlich bis zum Preußischen Regierungsrat brachte. In Konflikte geriet er allerdings durch Karikaturen seiner Vorgesetzten und Parteinahme für vom Staat verfolgte Dissidenten. Das bedeutete das Ende seiner bis dato ansteigenden Karriere,
 
Neben seiner Berufstätigkeit widmete er sich zunächst intensiv der Musik und dann fast ausschließlich der Schriftstellerei. 1804 wurde sein Singspiel „Die lustigen Musikanten“ (Libretto von Clemens Brentano) unter eigenem Dirigat aufgeführt. Seit diesem Jahr wechselte er zu Ehren Mozarts seinen dritten Vornamen zu „Amadeus“: Als E.T.A. Hoffmann wurde und blieb er weltberühmt. Sein größter und andauernder musikalischer Erfolg ist die Oper „Undine“ (1816), für die er sich das Libretto wie zwölf Jahre zuvor von einem Dichter erbat, diesmal vom Erfolgsautor Fouqué. Hoffmann fühlte sich als angesehener Schriftsteller aber nicht als Dichter wohl auch, weil er nie Lyrik verfasst hat. Gewissermaßen als Reverenz vor seinem musikalischen Genie haben ihm posthum große Komponisten bedeutende Werke gewidmet, die ihrerseits seinen Nachruhm festigen: Robert Schumann „Kreisleriana“ (1838), Leo Delibes „Coppélia“ (1870), Jaques Offenbach „Les Contes d'Hoffmann“ (1881), Peter Tschaikowski „Der Nußknacker“ (1892).
 
Während seiner Zeit im abgeschiedenen Posen entwickelte sich eine zunehmende Abhängigkeit vom Alkohol, von der er bis an sein frühes Lebensende nicht loskam. Wo sie geboten wurden, besuchte er jeden Abend eine Theatervorstellung; hernach ging er mit Künstlern zum Punsch. So verbrachte er in seiner Berliner Zeit viele Abende in dem durch ihn bekannt gewordenen Weinhaus Lutter & Wegner; nach dem Ende der Geselligkeit um Mitternacht blieb er oft noch bis zum Morgengrauen. Man muß sich nicht darüber wundern, daß bei seinem Tod über 1000 Reichstaler an Schulden allein beim Weinhaus aufgehäuft waren, wohl aber darüber, daß und wie er, der seine Berufsarbeit stets pünktlich und akkurat leistete, Zeit zu seinen musikalischen und dem relativ umfangreichen literarischen Schaffen fand. Letzteres betrieb er allerdings mit eine gewissen Flüchtigkeit, unter der vor allem sein Stil litt. Hoffmann hat nie wie etwa Jean Paul oder Hölderlin zu einem eigenen Stil gefunden - das erklärt neben anderem seine große Beliebtheit im Ausland: Seine prosaischen Schriften sind ebenso leicht übersetzbar wie auch die Lyrik Heines. Beide Schriftsteller waren und sind neben Goethe bis heute vor allem in Frankreich, Rußland und in den USA die beliebtesten deutschen Poeten. Besonders stark beeinflußte Hoffmann Balzac, Viktor Hugo und Baudelaire sowie Gogol, Dostojewski, George Sand und Edgar A. Poe. Im Ausland wurde Hoffmann umfassender rezipiert und ernster wahrgenommen als in Deutschland, wo Goethe seinen Werken „fieberhafte Träume eines kranken Gehirns“ attestierte, ihn also nach seinem bekannten Diktum zu den - gegenüber den „gesunden“ Klassikern -  „kranken“ Romantikern rechnete. Eichendorff und Wílhelm Grimm äußerten sich abwertend und ablehnend gegen ihn. Erst Richard Wagner und die Expressionisten schätzten Teile seines Werkes. 1919 ging Sigmund Freud in seinem Buch „Das Unheimliche“ dezidiert auf Hoffmanns gothic novel „Der Sandmann“ ein und erregte damit internationale Aufmerksamkeit.
 
Die durchaus gespaltene Rezeptionsgeschichte ist auch auf die neuartige Weise zurückzuführen, in der Hoffmann die Wirklichkeit in seinen Werken vorstellt, in denen er nicht nur häufig im fahrigen Stil der in Blüte stehenden zeitgenössischen Schauergeschichten schreibt. Es fasziniert besonders durch die von ihm immer bewußt offengehaltene Entscheidung, ob die geschilderten Spuk- und Gespenster als Realität oder als phantastische Einbildungen der handelnden Figuren aufzufassen sind.
 
Das sei an einem seiner bedeutendsten Werke aufgezeigt. 1814 erschien erstmals „Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit.“ Schon dieser Titel weist auf eine Dichotomie hin, die den ganzen Text durchzieht: 'Golden' und 'Märchen' stehen für den phantastischen, 'Topf' und 'neue Zeit' für den realistischen Aspekt.
           
      Am Himmelfahrtstage nachmittags um drei Uhr rannte ein junger      
      Mensch in Dresden durchs schwarze Tor und gerade in einen Korb    
      mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes häßliches Weibsbild feil  
      bot, so, daß alles, was der Quetschung glücklich entgangen,   
      hinausgeschleudert wurde […] rief ihm die Alte nach: „Ja renne nur   
      zu, du Satanskind – ins Krystall bald dein Fall – ins Krystall.“
 
Zeit und Ort kann man nicht präziser und realistischer einführen – der prosaische Aspekt; Erscheinung und die Worte des Äpfelweibs

Foto © Frank Becker
deuten auf den phantastischen Apsekt. In der ganzen Erzählung schwankt ihre Erscheinung zwischen einer biederen Marktfrau und einer bösartigen Hexe. Jedenfalls kommt es dem Studenten Anselmus so vor. Er ist Träger der Doppelsicht auf Dinge, Menschen und Ereignisse. Indem er sich zu Beginn in seiner phantasiereichen Stimmung an der Realität stößt, gibt es das Thema vor.
 
Der biedere Archivarius Lindhorst, der in der Phantasiewelt ein Geisterfürst ist, bestellt den Studenten für zwölf Uhr mittags zu sich. Der stärkt sich mit „eins – zwei Gläschen des besten Magenlikörs“ und steht mit dem Glockenschlag zwölf vor der Tür. Als er den bronzenen Türklopfer fassen will, erscheint ihm dieser plötzlich als das leibhaftige Hexenweib erscheint. Die Klingelschnur wird ihm zur Riesenschlange, die ihn umschlingt und mit dem Tod bedroht. Er fällt in Ohnmacht. Als er die Augen wieder öffnet, erblickt er einen fantasielosen Spießbürger comme il faut.
 
       Vor ihm stand aber der Konrektor Paulmann und sprach: „Was          
       treiben Sie denn um des Himmels willen für tolles Zeug, lieber Herr  
       Anselmus?“
 
Als der Student glaubt Spuk und Gespenster zu sehen, ist es hellster Mittag, gerade nicht die mitternächtliche Geisterstunde. Die Erscheinungen werden ins helle Licht gerückt und wirken auf die Spießbürger desto befremdlicher. „Verrücktes Zeug“, wobei Paulmann wohl auch an die Wirkung des Magenlikörs denken mag.
 
Es wird hier und an vielen anderen Stellen nicht klar, ob sich in der Geschichte Geister tummeln, die im Märchen ihren realen Platz haben, oder ob es sich um Phantastereien handelt. Der Schauplatz für diese Auseinandersetzungen ist der Student Anselmus. Der auktoriale Erzähler nimmt keine Stellung zu den verschiedenen Antworten, die man auf die von ihm immer erneut gestellte Grundfrage geben könnte. Er verfolgt allerdings eine verdeckte Erzählstrategie: Die für die Geisterwelt sensibilisierten Figuren sind ausnahmslos sympathisch (Studenten galten seinerzeit immer als Sympathieträger), so daß der Leser, ohne es recht zu merken, insgeheim Partei für ihre Weltsicht ergreift.
 

E.T.A. Hoffmann. Selbstporträt 1880
Anselmus möchte nur noch in der ihn beglückenden Phantasiewelt, auf seinem Rittergut in Atlantis, „in Wonne und Freude“ leben. Doch er spürt schmerzhaft deutlich, daß er diese Welt zu bald wieder verlassen muß, um in den prosaischen Alltag seines armseligen Dachstübchens zurückzukehren. Da klopfte ihm der Archivarius leise auf die Schulter und sprach:
 
      Still, still Verehrter! Klagen Sie nicht so! - Waren Sie nicht soeben      
      selbst in Atlantis und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens       
      einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum? - Ist denn    
      überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben
      in der Poesie?                    
 
Man darf diese letzten Worte im Märchen wohl ernst nehmen und ihnen Glauben schenken, obwohl sie als Fragen formuliert sind. Das Reich der Phantasie und der „Märchen“ ist zur Welt der Kunst und der Künstler geworden, die dieses „Gold“ auch noch „in der neuen Zeit“ in einem scheinbar alltäglichen „Topf“ zu finden wissen. Anselmus wird Dichter wie viele Märchenhelden in der Zeit der Romantik, wie es unter anderen Novalis, Tieck, Brentano und noch Gottfried Keller (in seinem „Spiegel“-Märchen) gestaltet haben. Hoffmann läßt im Gegensatz zu den anderen Romantikern die prosaische Realität der Neuzeit nicht außer acht, sondern weist ihr eine Rolle im alten Reich der Märchen zu.
 
 
© Heinz Rölleke für die Museblätter 2022