Jean-Jacques Sempé †

Er war der Philosoph unter den Zeichnern, ein Philanthrop von außerordentlicher Liebenswürdigkeit

von Frank Becker

© 1962 folio / Denoël /Sampé
Jean-Jacques Sempé †
 
Jean-Jacques Sempé war der Philosoph unter den Zeichnern, ein Philanthrop von außerordentlicher Liebenswürdigkeit und ein Cartoonist großem menschlichem Format. Vorgestern, am 11. August 2022 ist er im Alter von 89 Jahren gestorben
Er war ein Meister darin, mit leichtem, wenn auch präzisem Strich und zarter Kolorierung, bzw. akzentuiertem s/w in einzigartiger Manier Stimmungen einzufangen – ein Könner mit dem Stift, der Feder, dem Aquarell-Pinsel. Kaum einer vermochte die Lebensart seiner Landsleute so einfühlsam, liebenswert und augenzwinkernd einzufangen wie er. Und er war ungemein produktiv. Viele seiner bei Diogenes erschienenen Bildbände haben wir an dieser Stelle schon voller Begeisterung vorstellen können. Zuletzt haben wir vor einem knappen Monat über André Comte-Sponvilles – „Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg“ berichtet, das Sempé kongenial illustriert hat.
 
Geboren am 17. August 1932 in Bordeaux war der Künstler von ungebrochenem Ideenreichtum und andauernder Schaffenskraft. Zum Beweis legte der Diogenes Verlag unter dem Titel „Hin und weg“ erst unlängst einen überwiegend in Schwarz/Weiß-Tönen gehaltenen opulenten großformatigen Sammelband vor, der wie so oft bei ihm das gesamte Spektrum menschlichen Beieinanders und individueller Schicksale umfaßt. Junge Liebende, charmante alte Damen, Seeelenklempner und Patienten, Literaten und Künstler, Nachbarinnen und Naturfreundinnen, Galeristen und Gläubige, schlitzohrige Geschäftsleute, Konversationen und ein paar Engel hat Sempé für diesen köstlichen Band ganz- oder doppelseitig in den Blick genommen.
 
Es ist ein Buch zum Wiedererkennen seiner selbst im Alltäglichen, ein Buch zum  Schmunzeln, denn Sempé bleibt auch beim pointiertesten Sujet mit höflicher Distanz vornehm, seine geschliffene Ironie dennoch sanft. Der laute Lacher ist ihm fremd. Es braucht mitunter nur einen etwas mißtrauischen Seitenblick, wie den der Patientin auf der Therapie-Liege des vielfach gesichtsgepiercten Psychoanalytikers, das Bild eines Mannes, der weitab einer einförmigen Reihenhaussiedlung einen gequälten Schrei aus sich herausläßt oder eine Wanderin, die beglückt den neuen Trieb eines gefällten Baumes anschaut, um eine Geschichte zu erzählen. Und Sempé hat in seinem oft detailreichen Tableaus viel zu erzählen, denn man kann sich meist gar nicht daran sattsehen.
 

© 1964 Diogenes Verlag / Sempé

Die Bilder Sempés laden zum Verweilen ein, zum sorgfältigen Studieren von Situationen, Mimik und dem tiefen Ausdruck der mit Musik beschäftigen Menschen, die er, mit den Mitteln des gediegenen Cartoons nur leicht überhöht, dem Leben abgeschaut hat. Dabei spielen scheinbar nebensächliche Details wie ein Gemälde von Picasso an der Wand im Hintergrund, eine geduckt aus dem Raum schleichende Katze, ein Hut auf einem Stuhl oder eine Schale Café au lait auf dem Tisch durchaus eine Rolle. Jean-Jacques Sempé schwelgte in großen Tableaus wie dem eines selbstverliebten Pianisten, der mit flatterndem Halstuch den Klang des rauschenden nächtlichen Gartens genießt oder eines vergnügt auf einer Bank oder auf einem Bahnsteig wartenden Streichquartetts ebenso wie in seinen Einzel-Studien, seien es fröhlich musizierende Kinder, konzentriert spielende oder nach der Musik ausruhende Erwachsene. Sorgfältig hat er Menschen, Typen studiert und punktgenau skizziert.
 
Über viele seiner bei Diogenes erschienenen Bildbände haben wir an dieser Stelle schon voller Begeisterung berichtet. Seine Zeichnungen, Buchillustrationen und zutiefst einfühlsamen Portraits der Menschen und ihres Alltags, sein Blick aufs menschliche Mit- und Beieinander sind einzigartig und werden überdauern.