Einmal frei sein

Ein Feuilleton

aus dem Musenblätter-Archiv

Foto © Frank Becker

Einmal frei sein
 
Ein Vogel lag auf dem Rücken und hielt beide Beine starr gegen den Himmel gestreckt. Ein anderer Vogel kam vorüber und fragte verwundert: Warum liegst du so da? Und warum hältst du die Beine so starr? Da antwortete der erste Vogel: Ich trage den Himmel mit meinen Beinen. Wenn ich losließe und die Beine anzöge, würde der Himmel herabstürzen! Kaum hatte er das gesagt, da löste sich ein Blatt vom nahen Eichenbaum und fiel leise raschelnd auf die Erde. Darüber erschrak der Vogel so sehr, daß er sich geschwind aufrichtete und spornstreichs davonflog. Der Himmel aber blieb an seinem Ort.
Wenn ich diese Fabel lese, muß ich immer ein wenig schmunzeln über den kleinen Vogel, der sich für so wichtig gehalten hat, daß er meinte, ohne ihn würde der Himmel herabstürzen. Jedenfalls, meine ich, könnte uns diese Fabel mit in den Urlaub begleiten und beim einen oder anderen den Urlaub sogar bestimmen. Jeder von uns ist wichtig, einmalig und nicht auswechselbar wie eine Glühbirne. Das darf uns freuen. Aber andererseits ist keiner von uns der Eckpfeiler der Welt, ohne den alles zusammenbricht. Nur wer das weiß, es in seinem tiefsten Innern erkennt und annimmt, wird richtig Urlaub und Ferien machen können und anderen Urlaub zugestehen. Er kann frei werden von den Lasten und Verpflichtungen des Berufes, von den Forderungen des Alltags und den Ansprüchen der Mitmenschen.
 

Ein unbekannter Autor hat diese bedenkenswerte Geschichte geschrieben.
Ich fand sie, aus einer Zeitschrift ausgeschnitten, in einem antiquarisch erworbenen Buch.
Wenn sich ein Rechteinhaber findet, möge er sich bitte melden.