Köstlichkeiten mit Tiefgang

Giorgio Manganelli – „Irrläufe“

von Frank Becker

Köstlichkeiten mit Tiefgang
 
Auf magische Art zwingend:
Giorgio Manganellis „Irrläufe“
 
Als Giorgio Manganellis (1922-1990) Hundert Romane in Pillenform 1979 in Italien und 1980 brillant ins Deutsche übertragen von Iris Schnebel-Kaschnitz im Verlag Klaus Wagenbach erschienen, manifestierten sie den unnachahmlichen Stil ihres Verfassers: Auf kleinstem Raum voluminöse Gedankengebilde und allerfeinste, höchst komplexe Geschichten mit Tiefgang oder vermeintlich solchem unterzubringen. Zugleich öffnet der Autor Fenster und Tür für Spekulationen über die seinen dramatis personae zugedachten philosophischen Betrachtungen und logischen Schlüssen, mögen sie nun tatsächlich schlüssig sein oder auch nicht. Er  ermöglicht es dem Leser, in diese einzusteigen, sie gut zu heißen oder zu verwerfen. Oder auch nicht. Denn irgendwie wirken diese Irrläufe auf magische Art zwingend.
 
       Aus dem Verlagstext: Giorgio Manganelli braut hundertmal einen Cocktail aus Vermutungen, Spekulationen, Lügen und Phantasien. Die vielbeschworene Krise des Romans, die fanatischen Feuilletondebatten um Bibliotheken der hundert wichtigsten Romane - Giorgio Manganelli setzt sich munter darüber hinweg, vielmehr, er macht sich gar darüber lustig. Und präsentiert eine schmale, dafür umso gehaltvollere Sammlung: hundert Romane in Pillenform, die das ganze Manganellische Textuniversum zu Drogen verdichten.
Giorgio Manganelli, 1922 in Mailand geboren, übersiedelte 1953 nach Rom und studierte englische Literatur. Er war Mitbegründer des "gruppo 63", einflußreicher Kritiker und notorischer, 'freier Schriftsteller'. 1990 starb er in Rom.
 
       Ob es um Beziehungen zwischen Männern und Frauen geht, um Einhörner oder die monarchische Revolution, um Träume, Telefonanrufe, den Tod, Räuber und Mörder – immer finden Manganellis Protagonisten - die gelegentlich auch gar nicht existieren - auf erstaunlichen Wegen zu verblüffenden Erkenntnissen. Es ist nahezu zwingend, die eben gelesene Geschichte, pardon, den eben gelesenen Roman in Pillenform sogleich ein weiteres Mal zu lesen und erneut zu bewerten. Manganellis amüsante Fallstricke sind eine wie das andere – hundert mal – kleine Köstlichkeiten mit Tiefgang und von Ewigkeitswert. Sehr zu empfehlen.
Längst berühmt ist der Einstieg in den 100. Text:
„Ein Schriftsteller schreibt ein Buch über einen Schriftsteller, der zwei Bücher über zwei Schriftsteller schreibt, von denen einer schreibt, weil er die Wahrheit liebt, der andere, weil sie ihm gleichgültig ist. Von diesen zwei Schriftstellern werden insgesamt zweiundzwanzig Bücher geschrieben, die von zweiundzwanzig Schriftstellern handeln, von denen einige lügen, aber nicht wissen, dass sie lügen, indes andere wissentlich lügen, wieder andere die Wahrheit suchen, aber wissen, dass sie sie nicht finden können, Während noch andere schon glaubten, sie gefunden zu haben, und an ihr zu zweifeln beginnen.“
 
       Die sympathischen Text-Vignetten von Tullio Pericoli geben Manganelli ein Gesicht, wie auch teils seinen kuriosen Roman-Pillen. Und irgendwie paßt es zu Manganellis lügenhaft logischem Universum, daß der Verlag der Buchsendung einen handgeschriebenen Gruß beigelegt hat: Mit freundlichen Grüßen des Autors … Wir grüßen zurück – ins Jenseits.
Die Übersetzung von Iris Schnebel-Kaschnitz aus dem Jahr 1980 wurde übernommen, lediglich die deutsche Rechtschreibung wurde modernisiert, was nicht Not getan hätte.
 
       „Wenn ich mir einen Hinweis erlauben darf, so möchte ich bemerken, daß die beste aber auch kostspieligste Art, dieses Büchlein zu lesen, folgende wäre: Man erwerbe das Nutzungsrecht an einem Wolkenkratzer, der genausoviel Stockwerke zählt, wie der zu lesende Text Zeilen; auf jedem Stockwerk bringt man einen Leser unter, der ein Buch in der Hand hält; jedem Leser gebe man eine Zeile; nun beginnt der oberste Leser, von der Spitze des Gebäudes hinunterzustürzen, und während er nacheinander an den verschiedenen Fenstern vorbeifällt, liest der Leser des betreffenden Stockwerkes mit lauter und klarer Stimme die ihm anvertraute Zeile.“ Giorgio Manganelli
 
Giorgio Manganelli – „Irrläufe“
Hundert Romane in Pillenform
Mit einem Prolog des Autors und einem Nachwort von Klaus Wagenbach
Aus dem Italienischen von Iris Schnebel-Kaschnitz
 
© 2022 Verlag Klaus Wagenbach, 154 Seiten, fadengeheftete Klappenbroschur, mit Illustration von Tullio Pericoli - ISBN: 9783803133526
22,- €
 
Weitere Informationen: www.wagenbach.de