Der Wein in Goethes Werk (1)

Ein önologischer Spaziergang

von Heinz Rölleke

Ohne Wein und ohne Weiber hol der Teufel unsre Leiber! - Weinprobe in Saluzzo Foto © Frank Becker

Der Wein in Goethes Werk (1)
 
Von Heinz Rölleke
 
Es soll zunächst auf einen besonderen Aspekt zu diesem Thema eingegangen werden: Wein und Liebe oder Liebe und Wein.
 
In seiner wildesten Sturm und Drang-Zeit wählte sich der 25jährige Goethe ein kräftiges Lebensmotto, als er am 15. Juni 1775 auf dem Zürchersee dichtete:
 
                   Ohne Wein kann’s uns auf Erden
                   Nimmer wie dreihundert werden.
                   Ohne Wein und ohne Weiber
                   Hol der Teufel unsre Leiber!
 
Natürlich ist Goethe nicht der Entdecker oder gar Erfinder der innigen Zusammengehörigkeit von Liebe und Wein. Das ist ein Topos seit der Antike, der zur Zeit des jungen Goethe die sogenannten Anakreontiker geradezu inflationär bedichteten. So konnte der Satiriker Abraham Gotthelf Kästner auf Verständnis rechnen, als er sich 1755 über diese poetische Modekrankheit mokierte:
 
         Was Henker sol ich machen,
         Daß ich ein Dichter werde?
         Gedankenleere Prose,
         Um ungereimten Zeilen,
         Von Mägdchen und von Weine,
         Von Weine und von Mägdchen
         Von Trinken und von Küssen,
         Von Küssen und von Trinken,
         Und wieder Wein und Mägdchen,
         Und wieder Kuß und Trinken,
         Und lauter Wein und Mägdchen
         Und lauter Kuß und Trinken,
         Und nichts als Wein und Mägdchen
         Und nichts als Kuß und Trinken,
         Das heißen unsre Zeiten
         Anakreontisch dichten.
 
Vor diesem Hintergrund kann man ermessen, welchen neuen Ton Goethe auch für dieses Thema in die Lyrik brachte, zu welch neuem Rang er das abgenudelte Bild in vielen seiner Dichtungen läuterte.
 
       Zum Bei- und Ineinander von Liebe und Wein findet Goethe schon alsbald nach dem Furor seiner Sturm-und-Drang-Periode kultiviertere Wendungen, obwohl das gesetzlos Stürmische, das dieses Duo ‚Liebe und Wein’ kennzeichnet, immer wieder spürbar bleibt. So etwa im berühmten Lied vom „König in Thule“, das er später als Gretchens Auftrittslied in den „Faust“ aufnahm:
 
                   Es war ein König in Thule
                   Gar treu bis an das Grab,
                   Dem sterbend seine Buhle
                   Einen goldnen Becher gab.
 
Von einem König in einem sagenhaften Reich an der Grenze der Zivilisation ist die Rede, von dem wir nichts weiter erfahren als daß er alt und ein eminenter Weintrinker ist. Seine Buhle - und das heißt: seine Mätresse - ist ihm gestorben, und sie hat ihm als Symbol ihrer gemeinsamen Wein- und Liebesstunden den Becher hinterlassen, aus dem sie dabei gemeinsam getrunken haben.
 
                   Es ging ihm nichts darüber,
                   Er leert’ ihn jeden Schmaus,
                   Die Augen gingen ihm über
                   So oft er trank daraus.
 
So feiert der alte Weintrinker jeden Tag das Erinnern an seine Geliebte, der er treu bis in den Tod ist, und die ihm über den Tod hinaus ein Zeichen ihrer Treue hinterlassen hat. Bösartig könnte man sagen: Goethe exemplifiziert höchste Treue an einem alten Trinker und dessen Mätresse. Doch gerade daran zeigt sich Goethes Genie, seine ganz neue Sichtweise auf unbedingte Liebe und den Wein als deren Symbol. Indes ist vor allem zu bemerken, daß die Wendung „Die Augen gingen ihm über“ das Geschehen in eine höhere, ja eine gleichsam heilige Sphäre hebt, denn dies ist ein Zitat aus der Luther-Bibel (Joh. 11.25), wo dies so von Jesus berichtet wird. Als er sich Jerusalem näherte, gingen ihm die Augen über. Auf dieser Folie gewinnt der von der Buhle vermachte Becher Züge des von Christus als Gedächtniszeichen seiner unaufhörlichen Liebe gestifteten Abendmahlskelchs. Und so wird der letzte Trunk des Königs vor seinem Tod letzte Erinnerung an seine Buhle und letztes Abendmahl in eins:
 
                   Dort stand der alte Zecher,
                   Trank letzte Lebensglut
                   Und warf den heil’gen Becher
                   Hinunter in die Flut.
 
                   Er sah ihn stürzen, trinken
                   Und sinken tief ins Meer.
                   Die Augen täten ihm sinken,
                   Trank nie einen Tropfen mehr.
 

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→ in Goethes Werk am kommenden Sonntag an dieser Stelle.