Eine verschränkte Welt

Zum Nobelpreis der Physik im Jahre 2022

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Eine verschränkte Welt
 
Zum Nobelpreis der Physik im Jahre 2022
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Ein Franzose, ein Amerikaner und ein Österreicher (Alain Aspect, John Clauser und Anton Zeilinger) teilen sich den Nobelpreis für Physik des Jahres 2022, und sie haben ihre überfällige und hochverdiente Auszeichnung für den Nachweis bekommen, daß die Welt in ihrem Innersten über eine erstaunliche Qualität verfügt, die mit dem sperrig wirkenden Ausdruck „Verschränkung“ bezeichnet wird. Das Wort zirkuliert in Fachkreisen seit den 1930er Jahren, als der österreichische Physiker und Nobellaureat Erwin Schrödinger meinte, wenn man die Besonderheit der atomaren Sphäre durch ein Wort kennzeichnen wollte, müsste es Verschränkung heißen. In den 1920er Jahren – also vor etwa 100 Jahren – hatten die Forscher verstanden, daß sie sich von der klassischen Physik, wie sie etwa in den mechanische Bewegungsgleichungen von Issac Newton zu finden ist, verabschieden mußten, um zu verstehen, wie sich Atome und ihre Teile – ihre Teilchen – bewegen. Die neue Physik bekam den Namen Quantenmechanik, weil offenbar die Energie nicht kontinuierlich strömen konnte und sich stattdessen diskret bemerkbar machte, eben in Form von Sprüngen, die Atome ausführen mußten, um Licht auszusenden. Heute scheinen solche Quantensprünge vielen Managern zu gefallen, die für die Zukunft ihres Unternehmens auf solche Ereignisse setzen, ohne zu verstehen, daß ein Quantensprung die kleinste Änderung ist, die einem Atom passieren kann und zu einem Grundzustand führt, in dem dann Ruhe herrscht.
 
Offensichtlich gilt es vorsichtig zu sein, wenn man sich auf die Quanten einläßt, weshalb es schön ist, wenn der Nobelpreis die Aufmerksamkeit auf ihre Wirklichkeit lenkt. Es geht um die Frage, was Quanten bedeuten und bewirken, und hier bietet die Physik wundersame Antworten, wobei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt sei, daß der Autor dieser Zeilen die Erlebnisse der Atomforschung in den 1920er Jahren in dem kürzlich erschienenen Buch „Die Stunde der Physiker“ beschrieben hat, in dem man Leute wie Albert Einstein und Niels Bohr auf ihrem Weg in das Innerste der Welt begleiten kann.[1] Kurios ist, daß Einstein seit 1905 der Quantenphysik zwar in den Sattel geholfen hat. Als sie dann aber los galoppierte, gefiel ihm nicht, was es bei diesem Ausritt zu sehen gab, und ihm missfiel vor allem die Idee der Verschränkung, für deren Nachweis jetzt der Nobelpreis für Physik vergeben worden ist. Von der Verschränkung zweier Bausteine der atomaren Sphäre sprechen die Experten dann, wenn die Vermessung eines der beiden Teilchen, die einmal in Wechselwirkung gestanden haben, zugleich auch darüber informiert, welche Eigenschaften das andere hat, auch wenn es viele Kilometer weit weg ist. Das Besondere ist, daß keine Zeit benötigt wird, um die ermittelten Eigenschaften eines Teilchens auf das zweite zu übertragen. Die Verschränkung kommt instantan zustande, was sie weniger physikalisch und mehr metaphysisch macht. Einstein fand solch eine Situation unerträglich, weshalb er von einer „spukhaften Fernwirkung“ sprach, von der er nichts wissen wollte. Der diesjährige Nobelpreis wird für den Nachweis vergeben, daß Einsteins Spuk tatsächlich zur Physik gehört, und so kann man sich fragen, was der große Mann jetzt sagen würde. Zu seinen Lebzeiten – Einstein ist 1955 gestorben – konnten die heute mit Nobelehren ausgestatteten Experimente noch nicht durchgeführt werden, was ihn mit der Möglichkeit spekulieren ließ, daß man hinter der erfolgreichen Quantenmechanik eine noch raffiniertere Theorie der Materie finden könnte, mit deren Hilfe sich die Verschränkung verstehen ließ. Der Berichterstatter hält Einsteins Wunsch für sympathisch, meint aber auch, daß solch eine Theorie noch unverständlichere Züge zeigen würde als die ohnehin schon ungewöhnliche Quantenmechanik.
 
Bei aller Liebe zur Physik. Zuletzt wollen Menschen wissen, was Verschränkung philosophisch bedeutet und was diese Qualität zum Weltbild beiträgt. Hier bietet sich zur Erklärung ein einfacher Satz an, der wie folgt lautet: Eine verschränkte Welt ist ein Ganzes, das gar keine Teile hat. Die Teile – Atome, Elektronen, Lichtteilchen – gibt es nur, weil Menschen ihr Wissen von der Welt miteinander teilen wollen und darüber sprechen müssen. Die einzelnen Dinge bekommen deshalb Namen. Sie stehen aber nicht isoliert da und bleiben mit allen anderen verbunden. Sie sind verschränkt. Wer jetzt historisch denkt, sieht sofort Alexander von Humboldts Idee „Beziehung ist alles“ in der Natur aufleuchten. Wer mehr digital orientiert ist, sieht sofort, daß es bei der Verschränkung um Informationen über die materielle Wirklichkeit geht. Vielleicht gehören beide enger zusammen, als man denkt. Vielleicht sind beide sogar dasselbe, die Wirklichkeit und ihre Information. Physiker reden ja nicht über die Welt, sondern über ihr Wissen von der Welt. Für die entsprechenden Informationen bekommen sie Nobelpreise.  

[1] Ernst Peter Fischer, Die Stunde der Physiker, München 2022

© Ernst Peter Fischer