Erstens kommt es anders,

und zweitens als man denkt.

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Erstens kommt es anders,
und zweitens als man denkt.
 
Wer weiß schon, wie er leben will und wird?
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.“ Diese wohlbekannte Formulierung stammt von Wilhelm Busch, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch feststellen konnte, „aber hier wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt.“ Wer solche Weisheiten des berühmten Schöpfers der bösen Buben „Max und Moritz“ nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern näher verstehen will, wird mit der Frage beginnen, was die Menschen in den Jahren, in denen der vielseitige Künstler Busch dichtete, zeichnete und malte, in ihrem bürgerlichen Alltag dachten und glaubten, und zwar so, daß sie bei ihren Überlegungen und Planungen dauernd Überraschungen der beschriebenen und offenbar meist unangenehmen Art erleben mußten. Welche Erwartungen trieben Buschs Zeitgenossen um und was verhinderte deren Erfüllung oder Umsetzung? Es kann dabei nur darum gehen, mit welchen Hoffnungen die damalige Gesellschaft ihrer Zukunft entgegensah, wobei hier die Ansicht vertreten wird, daß dieser Blick nach vorne von den Erfolgen der damals mächtig aufstrebenden und sich nach und nach im Alltag unentbehrlich machenden Naturwissenschaften mit ihren technischen Anwendungen beeinflußt worden ist, die den Menschen viele neue Möglichkeiten zu bieten schienen. 
 
Mit Wilhelm Busch befindet man sich tief im langen 19. Jahrhundert, das man gerne von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg dauern läßt. Die wechselvolle Geschichte dieser einflußreichen Epoche haben Historiker in Büchern mit Titeln wie „Die Verwandlung der Welt“ beschrieben, wobei ein wichtiger Aspekt der globalen Transformation im frühen 20. Jahrhundert durch Max Weber in einer berühmten Rede auf den Begriff gebracht worden ist. Der Gelehrte wies in den Jahren des Ersten Weltkriegs darauf hin, daß die Menschen im 19. Jahrhundert angefangen hatten, „Wissenschaft als Beruf“ zu treiben. Mit dieser Feststellung versuchte der Vortragende seinen Zuhörern die wahrlich dramatischen Folgen der oft unterschätzten Tatsache vor Augen zu führen, daß seit den Lebensjahren von Busch Wissenschaft nicht mehr als Hobby von Amateuren, sondern professionell von angestellten Forscherinnen und Forschern betrieben wird, und zwar von einer bis heute zunehmenden Zahl von Menschen, die weniger an Universitäten und Akademien tätig sind und mehr in industriellen Unternehmen arbeiten, die Medizintechnik ebenso anbieten wie Automobile und elektronische Geräte. Seit den Tagen von Busch hängen das Leben und der Wohlstand in europäischen Breiten von den Produkten und Hervorbringungen von Wissenschaft und Technik ab, auch wenn viele Historiker meinen, eine umfassende Geschichte der Moderne ohne den Beitrag von Physikern, Chemikern und Ingenieuren erzählen zu können.
 
Nachdem Wissenschaft seit den Tagen von Busch ein Beruf geworden ist, hat sie sich mit der dazugehörigen Technik zu einer gesellschaftlichen Grundbedingung als globales sine qua non entwickelt, wie sich zum Beispiel am Erfolg der USA, zeigt, die nach dem Zweiten Weltkrieg „Science – the endless frontier“ entdeckt hat, was der Präsident Chinas inzwischen auch zu verstehen scheint, der in diesen Tagen „wissenschaftliche und technische Innovationen zum wichtigsten Schlachtfeld des internationalen Strategiespiels“ erklärt hat.[1]
 
Bevor die Wissenschaft im 19. Jahrhundert zum Beruf wurde, ließen sich Menschen wie Alexander von Humboldt oder Johann Wolfgang von Goethe von ihrer Neugierde auf die Natur treiben, und sie unternahmen ihre dilettantischen Beobachtungen nicht, um nützliches Wissen zu schaffen, sondern um ihren eigenen Platz im kosmischen Gefüge mit seinen genetischen Beziehungen finden zu können und über sich selbst Klarheit als Teil der Natur zu bekommen, die sie schauend erlebten, wobei sie sich dafür mutig in Gefahr begaben und körperliche Anstrengungen auf sich nahmen.
 
Nach den großen Geistern kamen einfachere Menschen wie Christian Friedrich Boehringer oder Heinrich Emanuel Merck, die zum Beispiel die Kindersterblichkeit senken und Fiebermittel in ausreichend großen Mengen bereitstellen wollten und deshalb aus ihren Apotheken die forschenden Unternehmen aufbauten, die bald das ausmachten, was man heute als pharmazeutische Industrie kennt. Mit dieser Entwicklung bekam die vor allem im England des 18. Jahrhunderts ausgelöste industrielle Revolution eine immer solidere wissenschaftliche Basis, was von der Philosophie dieser Epoche gestützt und gefördert wurde, die als Aufklärung bekannt, berühmt ist, auch wenn vorsichtig bleiben muß, wer die Frage „Was ist Aufklärung?“ angemessen beantworten will. Nach Ansicht von Immanuel Kant ging es darum, Mut zum Einsatz des eigenen Verstandes zu finden, was man im 20.Jahrhundert vergessen zu haben scheint. Denn nach Auffassung der beiden Sozialphilosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bestand das Programm der Aufklärung nicht in der Ermutigung von Menschen, sondern „in der Entzauberung der Welt“, wie sie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben haben und womit sie den abgedroschenen Ausdruck aufgreifen, der von Max Weber bereits im Ersten Weltkrieg vorgeschlagen worden war, um mit ihm auf die störende Eigenschaft der Naturwissenschaften aufmerksam machen zu können, die Soziologen als ihre Fähigkeit zur Berechenbarkeit der Dinge fürchten.
 
Zur gesellschaftlichen Dimension der Philosophie der Aufklärung gehört die Überzeugung, daß man die Welt mit der Vernunft erfassen und begreifen kann (auch wenn Immanuel Kant in seiner Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ einräumte, daß es Grenzen für fragende Forscher gab, wenn sie zum Anfang der Zeit vordringen wollten). Im 18. Jahrhundert zeigte man sich davon überzeugt, daß ein aufgeklärter Mensch bloß vernünftige Fragen über die Welt zu stellen brauchte – warum feiern die Menschen Weihnachten am 24. Dezember? Wieso fallen Sterne nicht vom Himmel? Warum soll man sich waschen? Wem schuldet man Gehorsam? Was sollen die Kinder auf der Schule lernen? Wie verhindert man Krankheiten? – und anschließend darauf ebenso vernünftig zu antworten – was jedermann und jedefrau an dieser Stelle selbst unternehmen kann. Danach wußte man Bescheid, kannte sich aus und konnte zur Tat schreiten, um das eigene Leben und die Welt zu verbessern. Mit dem dazugehörigen Vertrauen in die Rationalität des Menschen glaubten Menschen am Ende des 18. Jahrhunderts, die Zukunft der Welt sei vorhersagbar und die Geschichte der Gesellschaft planbar, wobei der Wissenschaft mit ihren strengen Gesetzen dafür eine entscheidende Rolle zukam. Doch „erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt“, denn nun kam das 19. Jahrhundert und mit ihm die Revolution der Romantik, und in ihrem Denken und mit ihrer Kultur stellte sich die Welt völlig anders dar, als die Aufklärer sich ausgemalt und gedacht hatten, und so konnte Busch zwar mit gewitzten Worten, sonst aber humorlos feststellen, „aber hier wie überhaupt, kommt es anders als man glaubt“.
 
Die Aufklärung meinte, mit rationalen Mitteln sagen zu können, wie sich die doch wohl guten Absichten von Menschen erfolgreich und zielorientiert umsetzen ließen, und sie nahm nicht an, daß es dabei zu Konflikten kommen würde, wenn man nur seinen Verstand passend eingesetzt und vernünftig argumentiert hatte. Doch die Romantik zerstörte diese Hoffnung auf Harmonie, indem sie die tiefste Basis der aufklärerischen Weltsicht kappte und zeigte, daß sich die Menschen von der erhofften Eindeutigkeit verabschieden mußten und daß es auf Fragen nach dem rechten Handeln gar keine verläßlichen Antworten gab – weder objektive noch subjektive, weder empirische noch apriorische. Durch die Romantik wurde bald unübersehbar, daß auch gutwillige Menschen sinnvoll erscheinende Ziele verfolgen konnten, die nicht miteinander vereinbar waren und in Konflikt geraten konnten, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, daß jede Person nicht nur ein Individuum, sondern immer auch Mitglied einer Familie oder Gesellschaft ist und oftmals in dieser dualen Existenz sich widersprechende Absichten umzusetzen versucht. In der Epoche der Romantik kam die Idee auf, daß sich allein mit dem Verstand nicht eindeutig klären läßt, was zum Wohle der Menschheit zu tun ist, und zwar deshalb nicht, weil bei den dazugehörenden Entscheidungen sittliche Werte ins Spiel kommen, die nicht in der Welt zu finden sind, was bedeutet, daß sich Menschen an ihnen nicht wie an Naturgesetzen orientieren können. Die Werte, nach denen auf Erden vorgegangen wird, kommen nicht von außen, sondern von innen. Menschen müssen sie selber schaffen, was sie zu Künstlern werden läßt, die zuletzt auch sich selbst entwerfen. Der Blick auf die Geschichte zeigt unübersehbar, daß Menschen diese kreative Freiheit tatsächlich ausgenutzt und ihr artistisches Potential ausgelebt haben, und zwar mit globalen Folgen.
 
Die Romantik macht also der Aufklärung einen kreativen Strich durch die ebenso hoffnungsvolle wie beruhigende Idee einer planbaren Welt, deren Berechenbarkeit auch daran scheitert, daß die überwiegende Zahl der Naturgesetze nicht deterministisch, sondern statistisch daherkommt. Man kann Physik nur auf statistischer Basis verstehen, was das Gespenst des Determinismus vertreiben sollte, wenn die Gelehrten aus der geisteswissenschaftlichen Sphäre sich offen für die probabilistische Entwicklung der Naturwissenschaften zeigen würden, wovor viele bis heute zurückscheuen. Auf jeden Fall zerstören sowohl die Unvermeidbarkeit von Wahrscheinlichkeiten als auch das kreative Einbeziehen von Werten, wie Menschen sie bei Entscheidungen und Abwägungen mit ihrem romantischen Gemüt unausweichlich vornehmen, den Traum von sich aufgeklärt gebärdenden Gesellschaften, ihre Zukunft planen und alle Entwicklungen vorhersagen zu können. Das zeigte sich in den fortschrittsfreudigen 1960er Jahren, als die Futurologen sicher waren, „Die Welt im Jahre 2000“ zu kennen. Ihre Texte kann man heute noch lesen, und wer etwas zum Lachen sucht, wird hier fündig. Dem Hochmut der Futurologen folgten die wissenschaftsskeptischen 1970 Jahre, an deren Anfang der Club of Rome „Limits to Growth“, also „Die Grenzen beim Wachstum“ – nicht „des Wachstums“ – ankündigte. In dem Buch prognostizierte eine Gruppe von Wissenschaftlern eine düstere Zukunft, und man berechnete mit Computermodellen, wann wesentliche Rohstoffe erschöpft sein werden. Gold würden die Menschen bis 1985 ausbeuten können, Zink bis 1988, Erdöl gebe es ab 1990 nicht mehr und mit dem Erdgas sei 1992 Schluß, wie der Club of Rome versicherte. Wie ein Blick in den heute noch viel zitierten Weltbestseller zeigt, haben die Prognosen nicht nur knapp, sondern komplett danebengelegen, ebenso wie die Vorhersage des Biologen Paul Ehrlich, der damals in seinem Bestseller „Die Bevölkerungsbombe“ auf wissenschaftlicher Basis erläuterte, warum die Menschheit das Jahr 1980 nicht überleben kann. In beiden Fällen haben die aufgeklärten Propheten der Düsternis die historische Tatsache ignoriert, daß Menschen romantisch agieren und Kreativität ihnen eigen ist, und die mit dieser Kunstfähigkeit möglichen Entwicklungen mehr Einfluß auf das Kommende haben als Zahlen aus der Vergangenheit. Merkwürdigerweise lieben die Leute Katastrophenszenarien mehr als positive Ausblicke, weshalb viele immer noch fest an die Vorhersagen des Club of Rome glauben. Und wenn der Weltklimarat (IPCC) seinen Jahresbericht vorlegt, suchen die Medien verzweifelt nach Hinweisen auf eine apokalyptische Klimakatastrophe, und sie verspüren keinerlei Lust, das zur Kenntnis zu nehmen, was in dem wissenschaftlich sorgfältig abgesicherten Papier tatsächlich zu lesen ist – daß nämlich trotz Klimawandel die Armut der Menschen abnimmt, daß sie künftig weniger Hunger leiden müssen und länger leben werden und die wissenschaftlich Tätigen mit all ihrer Intelligenz dabei sind, den Planeten zu retten.
 
Vielleicht kann man erneut von Wilhelm Busch lernen. Er hat 1863 geschrieben, „das entscheidende Wort, welches durch unsere Seele klingt, ist Resignation“. Allerdings erinnerte Busch daran, daß Resignation „ein rauhes Wort, oder ein sanftes“ sein konnte. Der kreative Mensch kann wählen. Busch brauchte nur einen Punkt aufs Papier zu malen, um in ihm „die unendliche Möglichkeit zu handeln“ vor sich zu haben, wie der Philosoph Fichte erkannt hatte.[2] Was für Busch der Punkt, ist für die Menschheit die Wissenschaft, nämlich „die unendliche Möglichkeit zu handeln“. Es sollte sich im 21. Jahrhundert langsam herumgesprochen haben.
 
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[1]
                        [1] Zitiert nach „Die Europäisierung des Silicon Valley“, FAZ Online Ausgabe vom 18.09.2022

[2]
                        [2] Gers Ueding, a.a.O., S. 279
 
© 2022 Ernst Peter Fischer