Wer nur ein bißchen Sinn für Mode hat, sollte das nicht versäumen.

„Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ von Anthony Fabian

von Renate Wagner

Mrs. Harris und ein Kleid von Dior
(Mrs. Harris Goes to Paris) - USA 2022

Regie: Anthony Fabian
Mit: Lesley Manville, Isabelle Huppert, Jason Isaacs, Lambert Wilson,
Alba Baptista, Lucas Bravo u.a.
 
Wer sich diesen Film ansieht, muß eines akzeptieren: Es handelt sich, ungeachtet vieler lebensechter Momente, einfach um ein Märchen. Die Putzfrau aus London, die nach Paris fährt, um sich ein Kleid von Dior zu kaufen, wird dort weder von einem Marquis angeschwärmt noch von einem hochrangigen Dior-Mitarbeiter eingeladen werden, bei ihm zu wohnen, sie wird auch nicht die Dior-Belegschaft zum Streik auffordern und andere wundersame Dinge erleben.
 
Gehen wir also davon aus, daß es ein Märchen ist, Kino als Traumfabrik wie anno dazumal, dann ist der Film so hübsch und gelungen, wie man es sich nur wünschen kann. Zuerst wegen Hauptdarstellerin Lesley Manville, an deren Gesicht man sich vage aus einigen englischen Filmen erinnert, die ihre große Karriere aber auf Londoner Bühnenbrettern gemacht hat. Einen Film auf ihr reizend-freundliches, aber durchschnittliches Gesicht aufzubauen, hat noch niemand gewagt. Hier trägt sie alles – die Handlung, den Zauber der Geschichte, die Aussage.
Die Aussage dieses Films von Regisseur Anthony Fabian, der auf „herzerquickend“ angelegt ist: Es geht um menschliche Werte. Daß eine arme Frau im London der Fünfziger Jahre, deren Mann im Krieg vermißt ist, sich als Putzfrau durchbringt und der gute Engel ihrer Kunden ist, die sie nicht verdienen. Weder die Lady, die nicht genug angeben kann, aber ihr den Lohn permanent schuldig bleibt, noch die dumm-egozentrische junge Schauspielerin. Mrs. Harris putzt, näht, tröstet. Sie ist das, was es so selten gibt, nämlich die Seele von einem Menschen. Und – das wird von ihren Freunden auch erkannt (was im Leben auch nicht oft passiert), von Putz-Kollegin Vi (herrlich: Ellen Thomas PoC), von Archie (wieder einmal eine schöne Rolle für Jason Isaacs), der sie vergeblich davon abhalten will, bei einer Hundewette viel Geld zu verlieren…
 
Mrs. Harris hat, so bescheiden ihre Welt ist, Sinn für Schönes. Als sie bei ihrer Lady ein Kleid von Dior sieht, ist sie so hingerissen, daß sie es zu ihrem Lebenstraum erklärt, ein solches zu besitzen. Als man ihr den Tod ihres Mannes mitteilt (gefallen für den König und Vaterland) und ihr die Witwenrente von Jahren auszahlt, fährt sie nach Paris. Kommt zu Dior, wird von der Directrice Claudine genervt abgewiesen: Isabelle Huppert spielt diese Rolle einer wahren Hexe mit Lust, besonders, weil sie später einen Auftritt hat, in dem sie sich ganz, ganz anders zeigen kann.
Nun, besagter Marquis de Chassagne in Gestalt von Lambert Wilson taucht auf, ölige französische Eleganz, nimmt sie in die Modenschau mit, und sie hat genug Geld, sich ein Kleid kaufen zu können. Claudine und andere Hochmutspinsel bei Dior (wo nur die Creme de la Creme verkehrt) tun alles, sie abzuwimmeln, aber welch ein Wunder – sowohl das Model Natasha (bezaubernd: Alba Baptista) wie der Geschäftsführer André Fauvel (Lucas Bravo, eben erst in einer viel beachteten Nebenrolle in „Ticket ins Paradies“ erfolgreich) nehmen sich ihrer an. Die Putzfrau genießt Paris, obwohl es dort Müll auf den Straßen und Demonstranten gibt (die zeitgeistige Entschuldigung heutiger Filmemacher), ja, sie bildet sich sogar ein, der Marquis möge sie gewissermaßen als Frau – bis er ihr sagt, sie erinnere ihn an eine liebenswürdige Nanny, die er einst als einsamer kleiner Junge im Internat hatte…
Das erspart dem Märchen ein unglaubwürdiges Happyend, aber davon gibt es dennoch genug – Mrs. Harris und Archie, ihre Freundin mit dem Busfahrer, und Fauvel und Natasha finden sich in gemeinsamer Begeisterung für die Werke von Jean Paul Sartre (was ziemlich putzig ist, wie sie sich zu existenzialistischen Überlegungen anhimmeln). Das Kleid erlebt noch ein abenteuerliches Schicksal, Mrs. Harris erhält Ersatz von ihren Freunden in Paris – daß sie im Dior-Kleid in einem bescheidener Londoner Tanzsalon erscheint, ist eigentlich keine sinnvolle Aussage, aber wer braucht das schon in einem Märchen?
 
Und wem das Ganze zu himmelblau und (trotz der Realitäts-Einsprengsel) zu kitschig ist, der hat außer der Hauptdarstellerin noch einen guten Grund, in diesen Film zu gehen: eine Modeschau bei Dior mit den Modellen der Fünfziger Jahre, ist Nostalgie pur, und wenn Mrs. Harris durch die Werkstätten geführt wird, da spürt man, daß Haute Couture eine Weltanschauung, fast eine Religion war. Damals, in den fünfziger Jahren zumindest. Wer nur ein bißchen Sinn für Mode (und Kulturgeschichte) hat, sollte das nicht versäumen.
 
 
Renate Wagner