„Vom Tod umfangen“

Rückerts Parabel „Es ging ein Mann im Syrerland“ (2)

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Vom Tod umfangen“
 
Rückerts Parabel „Es ging ein Mann im Syrerland“ (2)
 
Von Heinz Rölleke
 
Rückerts Parabel wurde durch Joseph Hammer-Purgstalls „Geschichte der schönen Redekünste Persiens“ (1818) angeregt, der die weltweit verbreitete Geschichte vom Mann, der über einem Abgrund schwebt, neu zusammengefaßt hatte. Die berühmteste mittelalterliche Fassung, die  auf einem byzantinischen Roman aus dem 10. Jahrhundert basiert, ist ein Gedicht des bedeutendsten persischen Dichters Dschelaleddin aus dem 13. Jahrhundert. Latein- und deutschsprachig begegnet die Geschichte seit der Zeit ungewöhnlich häufig, zum Beispiel in den „Gesta Romanorum“ und bei Rudolf von Ems in seinem Versroman „Barlaam und Josaphat“. Von der kontinuierlichen Tradition der Parabel können neben vielen anderen etwa Gedichte Michel Beheims und des Johann Peter Uz im 15. und im 18. Jahrhundert zeugen.
 
Eine Interpretation der Rückert'schen Parabel kann nicht alle vorausgehenden poetischen Bearbeitungen des Stoffes berücksichtigen, deren sich der Dichter bedient hat. Einleitend soll aber wenigstens ein mittelalterlicher Textzeuge aus dem 13. Jahrhundert vergleichend herangezogen werden, um in einigen Einzelheiten Übereinstimmungen, aber auch Eigenarten der Rückert'schen Parabel zu illustrieren.
 
Rudolf von Ems beläßt seine Erzählung ohne Ortsangabe. Die Rolle des Kamels spielt das sagenumwobene, hier ausnahmsweise bösartige Einhorn. Der vor ihm fliehende Mann bringt sich nicht in einem Brunnen, sondern an einem Abgrund in vorläufige Sicherheit. Er klammert sich an den Ast eines Bäumchens und sieht, daß eine schwarze und eine weiße Maus dessen Wurzeln benagen. Am Fuß des Abgrunds liegt ein Drache. Der verzweifelnde Mann entdeckt einen Ast des Bäumchens, der Honigseim spendet, den er mit Freude verkostet. Als Ausdeutung, mit der wie bei Rückert der Leser direkt angeredet wird, gibt der Dichter an: Der Abgrund ist die Welt, das Einhorn die stete Todesdrohung, das Bäumchen ist das Leben, die nagenden Mäuse sind Nacht und Tag, der Drache aber ist die dem Menschen nach seinem Tod drohende Hölle. Der Honig ist die „unstætiu süeze“ (der flüchtige Genuß), mit dem die Welt den Menschen über seinen Zustand hinweg täuscht:
 
                        Hie sî dir bilde bî gegeben,
                        daz du dirre welte leben
                        rehte erkennest wie sî stât.
 
Rückert spricht von einem nicht näher charakterisierten „Mann“, dem Jedermann, da dieser für den Menschen schlechthin steht. Seine Platzierung der Geschichte „im Syrerland“ spielt auf die frühe Verbreitung der Parabeln im palästinensischen Raum an. Zugleich erfährt der Leser eine Geschichte aus dem seit je an Israel angrenzenden Land, das ihm durch eine der populärsten Bibeltexte, dem Beginn des Weihnachtsevangeliums (Luk 2.1-2) vertraut ist: „Es begab sich aber zu der Zeit […], da Cyrenius Landpfleger in Syrien war.“ Ähnlich populär war das Kamel durch das in den Evangelien dreimal begegnende Gleichnis vom Nadelöhr (Matth 19.24; Mk 10.25; Luk 18.25). Das aparte Motiv der wohlschmeckenden Brombeeren mag Rückert eingeführt haben, weil deren schwarze Farbe symbolisch für den drohenden Tod steht, das aber auch insofern Sinn machen kann, weil den Beeren in der Volksmedizin sowohl giftige (Tod) wie vor allem auch gesundheitsfördernde Kräfte (Leben) zugeschrieben wurden.
 
Ganz ähnlich stellt sich das Verhältnis von Übereinstimmung und Abweichung gegenüber vielen anderen Versionen der Geschichte.
 
Die Faszination, die von sämtlichen Fassungen dieser Parabel zu allen Zeiten und in aller Welt ausgeht, ist durch ihr Kernthema gegeben. Es geht um die  Bedingung der menschlichen Existenz und um die Lebensauffassungen in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte. Jeder Mensch ist - nach Heideggers Definition - ungefragt ins Leben geworfen worden. Sein Dasein, dessen Faktizität die Natur ist, ist unausweichlich. Das Leben ist von der Nichtexistenz vor der Geburt und der Auslöschung durch den Tod umgeben. Beide Eckpunkte sind unausweichlich und offenbar fremdbestimmt und unentgehbar. Erfahrungen von Sterben und Tod sind dem Menschen lebenslängliche Begleiter, sind ihm ständig nahe.  Eine frühmittelalterliche, seit 750 n. Chr. überlieferte Antiphon hat das markant artikuliert: „Media vita in morte sumus.“ Martin Luther hat den Text 1524 - um zwei Strophen erweitert - zum deutschsprachigen Kirchenlied geformt:
 
                        Mitten wir im Leben sind
                        mit dem Tod umfangen
                        […]
                        du ewiger Gott;
                        laß uns nicht versinken
                        in des bittern Todes Not.
 
In Rückerts Parabel ist der Mann vom wütigen Kamel (des Lebens Angst und Not), dem aufgesperrten Rachen des Drachen (der allzeit drohende Tod) umkesselt, und das Werk der Mäuse (der unerbittliche Zeitablauf von Tag und Nacht) kann ihn jederzeit zu Fall bringen. Daß hier neben der orientalischen Quelle auch Vorstellungen des alten Kirchenliedes präsent sind, erweist allein schon das Vokabular: Des Menschen Existenz zwischen Leben und Tod schwebt in „beider Mitte“, und er fürchtet „des Todes Macht.“ Statt „der Hölle Rachen“ wie in Luthers 2. Strophe droht bei Rückert  der Drache „mit entsperrtem Rachen“, und der Mensch, derart ausweglos, „umstellt, umlagert und umdroht“, sieht sich vergebens nach „Rettung“ um.
 
Die Entdeckung und Verkostung der süßen Frucht ist der Punkt, an dem sich die Auffassungen von Art und Nutzen dieser partiellen Ablenkung vom unausweichlich drohenden Schicksal unterscheiden: Die meisten abendländischen Fassungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit warnen davor, über dem Genuss dieser Köstlichkeit Lebensnot und Todesdrohung zu vergessen. Die relativ kleinen Genüsse und Freuden, wie sie die Welt bietet, sollen im Sinn der Haltung des Contemptus mundi (Verachtung der Gaben dieser Welt), die aus dem Gedanken an den Tod („memento mori“) basiert, gemieden werden. Wie es mit ihnen bestellt ist, zum Beispiel ihre Vergänglichkeit oder gar ihre gänzliche Nutzlosigkeit soll der Mensch durchschauen, um sich nicht von der Betrachtung der Letzten Dinge und der drohenden Höllenstrafe ablenken zu lassen: Der Mensch soll die Vergänglichkeit der Freuden dieser Welt richtig erkennen („daz du dirre welte leben rechte erkennest wie sie stat“) - mit diesem Appell schließt Rudolf von Ems seine Ausdeutung der Parabel kurz und bündig ab. Luther erkennt zwar in Übereinstimmung mit den älteren Ausformungen die existenzielle Unentgehbarkeit an, durch die der Mensch zeitlebens „umfangen“ ist, weist aber wie diese auf den einzig möglichen Ausweg hin: „Salvator, Amaræ morti ne tradas nos“ - „Mitten in dem Tod  anficht uns der Hölle Rachen. […] Gott, laß uns nicht versinken in des bittern Todes Not.“
 
Die orientalische Tradition sieht das anders: Die süße Gabe, die der Mensch geboten bekommt, lenkt ihn von den unausweichlichen Bedrohungen ab, läßt ihn sein Leben genießen  obwohl ihm bewußt bleibt, daß es vergänglich ist. Es bleibt die von Horaz formulierte Empfehlung: „Carpe diem“ - nutze jeden Tag deines Lebens.

Wilhelm Busch - © Joachim Klinger
 
 
Wilhelm Busch hat darauf 1874 etwas nonchalant angespielt, indem er dem ausweglos vom baldigen Tod bedrohten Vogel attestiert, daß dieser seinen Humor, seine Lebenslust nicht verliert:
 
                        Der Vogel denkt: Weil das so ist
                        und weil mich doch der Kater frißt,
                        so will ich keine Zeit verlieren,
                        will noch ein wenig quinquillieren
                        und lustig pfeifen wie zuvor.
                        Der Vogel, scheint mir, hat Humor.
 
Man kann  - und soll wohl auch -  selbst in der ausweglosesten Lage des Lebens in dieser Welt deren Gaben genießen und seine eigene Kunstfertigkeit bis zuletzt pflegen.
 
Und genau hier knüpft Rückerts Parabel an: Im Bewußtsein der Unentgehbarkeit des Todes hat der Mensch doch das Recht, die Freuden des Lebens zu genießen, und die überall lauernden Gefährdungen zu ignorieren. So wird dem Leser in der abschließenden Anrede indirekt empfohlen:
 
                        Lockt dich der Beere Sinnenlust
                        […],
                        Daß du der Mäuse Tag und Nacht
                        Vergissest und auf nichts hast acht,
                        Als daß du recht viel Beerlein haschest,
                        Aus Grabes Brunnenritzen naschst.
 
Mit Rückerts säkularisiertem Bescheid bei der Ausdeutung seiner Parabel schließt sich ein Ring: In diesem Resümee begegnen sich Orient und Okzident, Antike und Neuzeit. Der Dichter schlägt auch hier -  wie schon durch seine bahnbrechenden und zeitüberdauernden wissenschaftlichen Beiträge zur Welt des Orients -  eine Brücke, durch die sich Antworten auf die ewigen Fragen nach dem Dasein, seinem Sinn und seiner Bewältigung untrennbar verbinden.

- Finis -
 
© 2022 Heinz Rölleke für die Musenblätter