#MeToo und die Bereitschaft der Vorverurteilung

„Menschliche Dinge“ von Yvan Attal

von Renate Wagner

Menschliche Dinge
Les choses humaines  /  Frankreich  / 2021 

Regie: Yvan Attal
Mit: Ben Attal, Suzanne Jouannet, Charlotte Gainsbourg u.a.
 
Die Familienverhältnisse sind nicht ideal und eigentlich wackelig, aber nach außen hin könnten  die Eltern saturierter nicht sein – der Vater Jean Farel (Pierre Arditi) ein Moderator-Star beim Fernsehen (wenn man ihn auch seines Alters wegen absägen will), die Mutter Claire (Charlotte Gainsbourg, hier so gut wie gar nicht gefordert) als gnadenlose Feministin gerne in Talk-Shows gefragt, die derzeit mit Adam (Mathieu Kassovitz), einem jüdischen Literaturprofessor, zusammen lebt, der für sie seine der jüdischen Orthodoxie verpflichtete Frau Valérie (Audrey Dana) und drei Töchter verlassen hat. Immerhin hat er die ältere von ihnen, die 16jährige Mila (Suzanne Jouannet), zu sich und Claire geholt.
Wenn nun der 22jährige Mustersohn des Paares Jean / Claire, kurz von seinen amerikanischen Studien in Standford nach Paris kommt, wird dieser Alexandre (Ben Attal) so sympathisch vorgestellt wie nur möglich. Attraktiv, intelligent, kommunikativ, höflich, freundlich, wenn auch zu seiner Ex-Freundin ein wenig bedrängend – ein junger Mann halt. Klar, daß er aufgefordert wird, Mila zu einer Party mitzunehmen…
 
Diese Voraussetzungen sind wichtig für den Film von Regisseur Yvan Attal (immer wieder problematisch unterwegs, zuletzt mit dem Film über Jean Seberg), denn sonst würde es den Kinobesucher, der sich da im französischen Großbürgertum suhlen darf, nicht so schockartig treffen, daß Alexandre plötzlich von Mila der Vergewaltigung beschuldigt würde. Noch vor ein paar Jahren hätte sie wahrscheinlich gar nicht gewagt, jemandem davon zu erzählen. Aber mittlerweile gibt es #MeToo – und auch die Bereitschaft der Vorverurteilung. Den jungen Mann einzukassieren und einen Prozeß anzustrengen (auch wenn es bis dahin drei Jahre ! dauert), ist eins.
„Menschliche Dinge“ – kein guter Titel, denn das kann ja eigentlich alles bedeuten. Menschliche Dinge in diesem Fall – der Film zeigt die Problematik gewissermaßen von allen Seiten auf, und das ist seine Stärke. Nur das scheinbare Versprechen, man würde erfahren, was „wirklich“ in dem Schuppen, wo sich die beiden hin verzogen haben, geschehen ist – was sich in seinen und ihren  Schilderungen natürlich unterscheidet -, das erfüllt die Geschichte letztlich nicht.
Aber gewissermaßen ist das auch die Aussage, die wir spätestens seit „Rashomon“ im Kino kennen –  daß jeder Mensch die Dinge anders erlebt, bewertet, be- und verurteilt. Was für Mila ein Akt der Grausamkeit war, ist für Alexandre bloß ein schneller Fick, wie er ihn hundertfach absolviert und wo er von Partnerinnen erwartet, daß sie ebenso darüber hinweggehen wie er. Daß er sich dabei auch noch schlecht benimmt – vielleicht braucht er es, um den Reiz des Augenblicke zu erhöhen. Schmutzig, schnell, bedeutungslos in seinen Augen.

Der Film zeigt auch – wenn auch eher am Rande – wie die jeweiligen Eltern  darauf reagieren, wie sich nach diesem Vorfall für alle Beteiligten Beziehungen verändern. Vielleicht ist es die Schwäche der Geschichte, daß man dazu neigt (selbst als Frau) Alexandres Verhalten nicht so kraß zu beurteilen, weil er so einnehmend ist, während Mila als Racheengel mit widersprüchlichen Aussagen gezeigt wird und darum nicht wirklich sympathisch herüberkommt.
Eines immerhin reflektiert der Film – das veränderte Verhalten der Umwelt: Ungeachtet dessen, daß Männer unter der Hand immer noch meinen, die Frauen sollen sich nicht so anstellen und irgendwie seien sie auch selbst schuld, wird dem Opfer offiziell jeder Respekt entgegengebracht. Wenigstens etwas.
Dafür, daß der Ansatz des Films, der einfach Positionen aufzeigt, eher theoretisch ist und seine Länge (2 Stunden 20) etwas ausufert, ist erstaunlich, wie spannend die Geschichte ist. Fast krimi-spannend, weil man gewissermaßen auf eine unerwartete Wendung hofft. Aber nein, es geht nur darum – zwei junge Leute, casual Sex, wie heute üblich. Aber nicht für jede junge Frau selbstverständlich und wegzustecken.
 
 
Renate Wagner