Seelentiefe

Johannes Haage & Drift – „Wings“

von Frank Becker

Original-Artwork "Dleta" von Lev Khesin
Tiefe
 
Johannes Haage & Drift loten Stimmungen aus
 
Johannes Haage (Gitarre) und Joe Smith (Schlagzeug) haben diese zwölf großartigen Stücke geschrieben und gemeinsam mit dem Kontrabassisten Matthias Pichler im Trio mit spürbarer Emphase zu einem ganz besonderen Album geformt. Es ist eine gute Dreiviertelstunde hochkarätiger musikalischer Meditation geworden, die mit grandiosen Kontrabaß-Läufen, gefühlvollen Schlagzeugpassagen und den faszinierenden Klängen der Gitarre Johannes Haages mehr als nur unter die Haut geht.

Selten findet man in Begleittexten so griffige und nachvollziehbare Beschreibungen zu Entstehung und Intention der Musik wie hier. Deshalb wollen wir Ihnen, liebe Leser, diese Texte nicht vorenthalten, die beim Hören und Lesen die Musik von „Wings“ förmlich be-greifbar machen. Aber nebenbei: Auch ohne diese Beschreibungen hätten die zwölf Kompositionen dieses als Konzept der Seelentiefe angelegten Albums ihre Wirkung nicht verfehlt. Sie sind exorbitantes Hörvergnügen, berühren zart die Seele, lassen Gefühle nachempfinden, Melancholie spüren und Versenkung zu.

Lesen Sie, was die Komponisten zu ihrer Musik zu sagen haben:
 
Johannes Haage und Joe Smith über ihre Kompositionen auf „Wings"
 
Angel In The Air (J.Smith) Diese Melodie entstand am Heiligabend 2020 in einem nostalgischen Gesangsanfall. Die festlich anmutenden, freien Trommelschläge, die das meterlose Pulsfundament für die darüber schwebende Rubato-Melodie bilden spiegeln das charakteristische Konzept des Komponisten Joe Smith wieder, das es dem Trio ermöglicht, sich frei ohne die Beschränkungen konventioneller Formen auszudrücken.
Delayney (J.Haage) Dieses Stück ist dem australischen Gitarristen Jon Delaney gewidmet. Ich erfuhr, daß er nach einer schweren Krankheit verstorben war, während wir an der Musik für dieses Album arbeiteten, und schrieb die Melodie in Gedanken an ihn. Ich habe viele wertvolle Erinnerungen daran, mit ihm Duo zu spielen, als er vor Jahren in Berlin lebte. Ein großartiger Musiker und Freund, der viel zu früh von uns gegangen ist. Das Lied ist im 3/4-Takt, aber die Melodie ist größtenteils in 4/4, was ein „4 über 3“-Feeling erzeugt, das vom Trio frei und spontan verwendet werden kann. Das melodische Material des Themas entwickelte sich aus einer konstanten Intervall-Akkordstruktur, die sich chromatisch über verschiedene Baßnoten bewegt und so die harmonische Form des Stücks erzeugt. Feraxus VIII. (J.Haage) Dieses Stück ist dem imaginären König Feraxus VIII. geschrieben, der einst über die Spiaggia di Feraxi regierte, einen Strand an der Ostküste Sardiniens. Ich schrieb es am achten Geburtstag meines Sohnes im Mai 2021. In Gedanken an ihn tauchte plötzlich die Erinnerung daran auf, wie ich mit seiner Mutter an diesem wunderschönen, leeren Strand spazieren ging, bevor er geboren wurde. Die beiden zyklischen Teile spiegeln diese Erfahrung wider und können vom Trio frei interpretiert, geloopt und wiederholt werden.
Mantz (J.Haage) Dies ist ein Abschiedslied und dem großen Künstler Gerhard Mantz gewidmet. Ich habe ihn einige Jahre gekannt, bevor er ganz plötzlich und unerwartet verstarb, während wir die Musik für diese Aufnahme vorbereiteten. Er war ein großartiger Zuhörer und einzigartiger Künstler.
Chat (J.Haage) Eine Melodie, die an Vogelgezwitscher oder das selbstvergessene, sorgenfreie Hin- und Her- Plaudern kleiner Kinder erinnert. Es gibt keine Akkordstruktur oder festes Metrum, nur Vorwärtsbewegung - ein Sprungbrett für den freien Energiefluss und den offenen, melodischen Austausch unter den Musikern. Unser Take von der Recording-Session ist nur zu hören wenn man die Vinyl-LP auflegt
Double Rainbow (J.Smith) Inspiriert vom Anblick eines doppelten Regenbogens, der im Frühjahr 2021 durch die Gewitterwolken über den regennassen Straßen Berlins brach. Johannes Haage präsentiert die bogenförmige Melodie dreimal, gestrichen mit seinen innovativen Gitarrenbogentechniken und -effekten, während Baß und Schlagzeug die (Strassen-)Intensität darunter erhöhen es, bis es (fast) zum Bruchpunkt kommt.
Slope (J.Haage) Dieses kurze, kontrapunktische Stück führt stetig abwärts indem es einen Dominantklang durch alle Tonarten rund um den Quintenzirkel herum trägt, mit Hilfe eines Tritonus in der Baßstimme. Es kann endlos wiederholt und auf viele Arten gespielt werden die einzelnen Stimmen können auf die verschiedenen Instrumente aufgeteilt und zusammen auf Gitarre und Baß gespielt, oder sie können gleichzeitig allein auf der Gitarre gespielt werden - was Baß und Schlagzeug viel Raum läßt zum improvisatorischen Erkunden, jede Runde neu.
Two Way (J.Haage) Dies ist eine Kontrapunkt-Komposition - zwei melodische Pfade durch den chromatischen Raum, die einander mal anziehen, mal abstoßen und damit Harmonie und Bewegung erzeugen. Baß und Gitarre spielen die beiden Linien wiederholt mit nur subtilen rhythmischen Variationen und schaffen so ein strukturelles Gerüst, um das herum das Schlagzeug frei improvisieren kann
Fluttering Wings (J.Smith) Ein Gefühl des Flatterns durch das Tremolo auf der Gitarre, kombiniert mit dem passenden Puls des Trommelschlags, bietet eine perfekte Plattform für Matthias Pichler, um in frei fließender Vorwärtsbewegung abzuheben um seine komplizierten rhythmisch/ poetischen Geschichten zu erzählen.
Local (J.Haage) Die erste melodische Idee für dieses Stück kam mir in den Sinn, als ich durch meine unmittelbare Berliner Nachbarschaft in Schöneberg spazierte und darüber nachdachte, wie doch jeder „Kiez“ ein eigenes kleines Dorf in dieser Stadt ist. Während der Song melodisch sehr schnell und natürlich entstand, merkte ich beim Ausarbeiten auf dem Instrument und im Trio, daß der harmonische Rhythmus eine Form mit wechselnden Takten von 4/4 und 3/4 erzeugte, welche sich als Herausforderung herausstellen sollte.
Zero Gravity (J.Haage) Ein einfaches Lied mit einer gesanglichen Melodie, in einem bestimmten Tonumfang geschrieben, damit sie mit einem Geigen- Bogen auf der hohen E-Saite der Gitarre spielbar ist...Matthias hat das Time-Feel und den tangoesken Baßpart beigesteuert, der das melancholische Thema stilistisch perfekt ergänzt.
Whole (J.Smith) Die kontinuierliche Bewegung der Melodie ist wie eine Schlange, die sich auf ihrem Weg den Berg hinauf langsam durch das Gestrüpp krümmt und sich sanft bewegend um alle Hindernisse windet, auf die sie trifft. Sie nimmt das Trio mit auf ihre entschleunigte Reise Wohin? Irgendwo…
 
„Wings“ ist ein ganz feines, vornehmes Album, das vorbehaltlos unser Prädikat, den Musenkuß bekommt. Unsere Schallplatte der Woche.
 
Johannes Haage & Drift – „Wings“
© 2021 Shoebillmusic (CD)
Johannes Haage (g) – Matthias Pichler (b) – Joe Smith (dr)
 
1. Angel in the Air 04:00 - 2. Delaney 05:11 - 3.  Feraxus VIII. 03:52 - 4. Mantz 04:53 - 5. Double Rainbow 05:56 - 6. Slope 02:02 - 7. Two Way 02:53 - 8. Fluttering Wings 05:18 - 9. Local 05:31 - 10. Zero Gravity 03:23 - 11. Whole 03:33 - 12. Slope 01:29
Gesamtzeit: 48:04
 
Weitere Informationen: www.shoebillmusic.com  -  www.johanneshaage.com