Mittendrin

Helle Helle – „SIE und BOB“

von Frank Becker

Mittendrin
 
- Zwei Welten -
Ein Entwicklungsroman
 
Helle Helle hat die einzigartige Fähigkeit, einen Roman mittendrin im Leben beginnen zu lassen, ohne Vorgeschichte das ganz Normale und eigentlich kaum etwas Weltbewegendes zu erzählen, damit aber derart auf den Punkt zu kommen, daß man voller Faszination in den ganz gewöhnlichen Alltag ihrer handelnden Personen, in ihr Leben eintaucht, hineingesogen wird. Kurz: Helle Helles Bücher machen lesesüchtig, wie schon durch ihre bisherigen Romane bewiesen.
Nun legt ihr deutschsprachiger Verlag Dörlemann mit „SIE und BOB“ – recht gewagt, wie ich finde – einen aus ursprünglich den zwei eigenständigen Romanen „de“ (2018) und „BOB“ (2021) zusammengefügten „Doppelroman“ vor dessen beide Teile zumindest von der Herkunft der Protagonisten ein Bindeglied haben, ein anderes vielleicht in der Wohnsituation. Es ist, wie anders nicht zu erwarten, die Insel Lolland im Süden Dänemarks, ländlich vom Charakter mit wenigen Kleinstädten und stark an den wichtigen Arbeitgeber Rødby Færgen gebunden (vgl. auch Helle Helles wunderbaren Roman „Rødby - Puttgarden“), die Heimat der Autorin.
 
In  „SIE“, womit die beiden Hauptfiguren Mutter und Tochter gemeint sind, deren Namen wir nicht erfahren, leben die beiden Frauen, die 16 Jahre alte Gymnasiastin und ihre schöne Mutter, eine Mittvierzigerin harmonisch im gemeinsamen Haushalt. Wir sind in den 80er Jahren. Es ist ein Leben ohne Konflikte, mit den Alltagsproblemen, die jeder hat und mit den Entwicklungen, die in jedem Leben geschehen. Nachbarschaften und Berufliches bei der Mutter, schulische und private Freundschaften, kleine Liebschaften, Partys und verpaßte Busse bei der Tochter. Wir lernen zahlreiche Nebenfiguren recht genau kennen – die allerdings mit Namen -, wir gehen mit ihnen einkaufen, lernen dabei die Supermärkte Brugsen, Irma, Netto, Favør kennen und alles was die durchschnittlichen Dänen gerne einkaufen, essen und trinken. Wer je in Dänemark war, kennt die Namen, kennt und liebt die die genannten Backwaren, weiß um die kommunikative Bedeutung der kostenlosen Wochenzeitung, mag die leichte Lebensführung, die das Land und seine Menschen ausmacht. Als die Mutter so schwer erkrankt, daß sie ins Krankenhaus muß – wir erfahren nicht weshalb-, bricht das Leben nicht über den beiden zusammen, die vernünftig erzogene Tochter versucht mit der Situation zurecht zu kommen. Und wie die Geschichte mittendrin unspektakulär beginnt, klingt sie ohne Aufsehen aus.
 
Die Tochter treffen wir in „BOB“ wieder. Das Abitur ist bestanden, sie zieht mit ihrem Freund Bob – er kam schon in „de“ vor - nach Kopenhagen um zu studieren, die erste gemeinsame Wohnung ist ihr Paradies. Helle Helle beschreibt auch hier ohne Sensationen, aber mit großer Tiefe und wunderbarer, unprätentiöser Sprache das tägliche Geschehen, ihre wieder vielen interessanten

© 2015 Samvirke
Nebenfiguren, läßt unser Paar über sein neues Leben reflektieren und begleitet es durch die bekannten und neue Einkaufspaläste wie Illum und Magasin, klappt Kopenhagen wie ein Diorama auf und durchwandert es mit Bob, denn SIE tritt bald in den Hintergrund, wird zur Erzählerin. Detailverliebt erleben wir Bobs Putztage, seine Arbeit im Seemannshotel, ausgedehnte Spaziergänge durch die Straßen Kopenhagens, das Flanieren auf Strøget, Besuche in Lokalen und Essenspläne, ungeplante Bahnfahrten Bobs bis Klampenborg, auch die weiblichen Versuchungen, denen sich der gutaussehende junge Mann ausgesetzt sieht, denen er aber nie nachgibt. Auch hier fasziniert die Einfachheit und Präzision von Helle Helles Sprache, die Beschreibung gelber Klinkerbauten mit zugigen Balkontüren, die Erkenntnis, daß viele einander kennen, weil es ein kleines Land ist. Man hat Kopenhagen vor Augen, Nakskov, Maribo, Vanl
øse, Rødby, sogar Græsted kommt in einem Halbsatz vor, man schmeckt und riecht Dänemark. Leidvoll spüren wir Bobs Entfernung von IHR, der Erzählerin mit, seine Unzufriedenheit, für die er niemanden Verantwortlich macht und erleben schmerzlich, doch ohne Zerwürfnis oder Streit das Ende einer Liebe.
„SIE und BOB“ setzt die wunderbare Reihe von Helle Helles Romanen schlüssig fort. Es gibt noch einiges im deutschsprachigen Raum Unveröffentlichte, das Flora Fink übersetzen könnte. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Helle Helle – „SIE und BOB“
Doppelroman
Aus dem Dänischen von Flora Fink (Originaltitel: de / BOB)
© 2022 Dörlemann Verlag, 352 Seiten, gebunden, Lesebändchen - ISBN 9783038201106
28,- € [D] / 28,80 € [A] / 37,-  SFr. (UVP)
Auch als eBook erhältlich! (eBook ISBN 9783038209157)
19,99 €
 
Weitere Informationen: https://doerlemann.ch/6792