Man braucht keine Taschentücher und ist dankbar dafür

„Mehr denn je“ von Emily Atef

von Renate Wagner

Mehr denn je
Plus que jamai / Frankreich, Norwegen 2022 

Regie: Emily Atef
Mit: Vicky Krieps, Gaspard Ulliel, Bjørn Floberg
 
Sterbefilme sind ein Genre für sich, und ein besonders heikles noch dazu. Schließlich sollen sie zwar tiefgründig und bedeutungsschwer sein, aber nicht sentimental. Und es geht darum, Menschen, die das Glück haben, ihren eigenen Todeszeitpunkt nicht zu kennen, in die Schicksale jener einzubeziehen, die aus irgendeinem Grund ihr Todesurteil erhalten haben. So wie die noch junge Hélène, die mit ihrem Gatten Matthieu in an sich glücklicher Ehe in Bordeaux lebt. Aber wie glücklich ist man, wenn das Leben der Frau (die Krankheit wird nicht genau definiert) davon abhängt, daß sie gleich beide Lungenflügel transplantiert bekommt?
 
Der Film von Regisseurin Emily Atef (hierzulande vor allem bekannt für „3 Tage in Quiberon“, die Romy Schneider-Tragödie in der Bretagne) beginnt bereits krisenhaft. Während der Gatte versucht, angebliche Normalität zu erzeugen und Hélène geradezu zwingt, mit ihm zu einem Treffen mit Freunden zu gehen, verliert sie die Nerven – sie erträgt das Mitleid der anderen, das künstliche Leugnen ihrer Situation nicht.
Und so nimmt der Film einen im Grunde vorhersehbaren Verlauf, der dennoch geschickt so manchem Klischee ausweicht. Hélène will aus ihrem normalen Leben aussteigen – und sie tut es. Ein Blogger, der allein in einer Hütte an einem norwegischen See lebt, nimmt sie in seinem Bootshaus auf. Der widerstrebende Gatte wird zurück gelassen.
Nun könnte es billig laufen –  Romanze mit dem „Mister“, wie sich der Blogger nennt, aber nein, es gibt nur eine vorsichtige, respektvolle Beziehung. Der Ehemann könnte abspringen, aber nein, er fährt ihr nach, liebt sie, will sie festhalten. Die wunderbare Natur (der Film schwelgt geradezu in der herrlichen Landschaft) könnte sich als „heilend“ für die Lungen herausstellen, aber nein – aber sie stirbt auch nicht an Überanstrengung, wenn sie gnadenlos durch die Wälder wandert.
Am Ende hat Hélène entschieden, die Operation, das Zerlegen ihres Körpers, abzulehnen und ohne ihren Mann, den sie in ein anderes Leben ohne sie schickt, auf den Tod zu warten. Was eigentlich sehr schön und einleuchtend ist.
 
Es ist ein elegischer Film, ein langsamer, der jede Übertreibung und jede Theatralik meidet. Vicky Krieps: sieht unglaublich moribund aus, wie eine schwer Kranke, die ihre letzte Entscheidung mit Würde trifft. Liebenswert ist Gaspard Ulliel als ihr Gatte (tragischerweise ist er bald nach Beendigung der Dreharbeiten infolge eines Skiunfalls erst 38jährig gestorben, was dem Film einen Trauerrand besonderer Art verleiht). Wenn der Norweger Bjørn Floberg auftaucht, der alte Mann, der in der Natur Norwegens sein Leben verbringt, dann switcht der Film stellenweise vom Französischen ins Englische.
Am Ende braucht man keine Taschentücher und ist dankbar dafür. Aber so richtig unter die Haut geht die Geschichte auch nicht.
 
 
Renate Wagner