Flüsterengel

von Detlef Färber

Detlef Färber - Foto © Silvio Kison
Flüsterengel
 
Dramatische Wende kurz vor dem Ende des Weihnachtsspiels: Plötzlich springt der Pfarrer wie von der Tarantel gestochen auf, hebt die Hand und unterbricht die weit fortgeschrittene Szene im Stall von Bethlehem: „Wir haben den Engel vergessen!“, ruft er. Und tatsächlich, Sekunden vorher schlich ein kleines Mädchen im Engelkostüm auf Zehenspitzen durch die Dorfkirche, zupfte den Pfarrer am Talar und flüsterte ihm das Engel-Drama ins Ohr. Das hatte sich Minuten zuvor ganz undramatisch angebahnt. Drei größere Jungs mit noch größeren Hirtenstäben machten sich vor ihrem Auftritt ein bißchen Platz im engen Gang hinter den Kirchenbänken und schoben den schüchternen Engel beiseite. Und schritten zur Tat - ohne den Engel, der aufgeregt auf seinen Einsatz wartete. Doch gleich nach den Hirten brachen auch schon Maria und Josef auf in Richtung Bethlehem, während der kleine Engel immer noch wartete. Und schon wußte, daß da was schiefgelaufen war. Aber mit einer Entscheidung rang: Sollte er, der kleine Engel, die Geschichte noch aufhalten, die ohne ihn ja gar nicht funktionieren konnte. Was war zu tun? Und wann? Die Zeit drängte, denn schon fanden Maria und Josef den Stall mit der Krippe. Und abseits davon kämpfte der Engel immer noch mit sich und seinen Tränen. Und mit dem einsamen Entschluß, endlich vorzutreten und „Stop!“ zu rufen. Schon kamen die Hirten vom Felde, um - wie es in der Bibel steht - das Christkind zu begrüßen. Aber woher wußten gerade diese Hirten von der wundersamen Geburt? Den Engel, der ihnen die Neuigkeit hätte zurufen sollen, hatten sie ja über den Haufen gerannt! Aber plötzlich war er doch da, der Engel. Nur gerufen hatte er nicht, sondern geflüstert - gerade eben erst. Doch das Flüstern hat genügt. Und auf einmal steht er im Mittelpunkt, der vergessene Engel: mehr als je zuvor ein Weihnachtsengel. Denn auf einmal weiß wieder jeder in diesem kalten Gemäuer, daß es ohne Engel auch sonst ziemlich mau aussieht. Und auf einmal überlegen alle, welchen Engel sie selber mal dringend brauchen könnten: Schutzengel, Hilfsengel oder Kuschelengel? Oder doch öfter einen Engel wie diesen, der ihnen noch rechtzeitig das Richtige flüstert.
 
 
© Detlef Färber