„Zungen-Charleston und Gehirnstep“
Albrecht Dümling über die Weintraubs Syncopators
Berlin in den 20ern, das war Kultur, Leben, Amüsement und Kunst, heutzutage unvorstellbar. Durch Zuzug Intellektueller, Künstler und Literaten aus Rußland und dem aufgelösten Österreich-Ungarn nach dem verlorenen 1. Weltkrieg war die Stadt multikulturell aufgemischt worden. In Berlin erschienen 45 Morgenzeitungen, 14 Abend- und zwei Mittagszeitungen, dazu Wochen- und Monatsmagazine. Zur Unterhaltung gab es 160 Varieté-Theater, 40 große Bühnen, an denen Elisabeth Bergner, Erwin Piscator, Heinrich George, Fritz Kortner, Max Reinhardt und viele andere mehr Regie führten oder auftraten.
Musikalisch war in Deutschland der preußisch-militärische Gleichschritt im Vier-Vierteltakt mit dem verlorenen Krieg 1918 erst einmal zu Ende. Faszinierender waren Shimmy, Charleston und vor allem der Jazz, der von der US-Armee, u,a. den Harlem Hellfighters (James Reese) sozusagen als Mitgift nach Europa importiert worden war. Mit ihrer verschobenen, synkopisch verrückten Taktzeit (also nicht 1-2-3-4 sondern 1 und, 2 und 3 und 4) und der Verbreitung des Koffergrammophons nach Beendigung der Inflation 1924 wurde die neue Musik zunehmend populär. Stefan Weintraub, geb. 1897, Handelsvertreter, hatte nach zweijährigem Militärdienst den Weltkrieg überlebt, spielte intensiv Klavier, versuchte natürlich die „verrückte“ Musik auf seinem Instrument, versammelte Gleichgesinnte um sich herum und gründete im August 1924 eine Band.
Nach drei Monaten kam es zu ersten Auftritten der Weintraubs Syncopators und bald gab es legendäre Auftritte der Band im Schubertsaal an der Bülowstraße. „Wort-Jazz, ekstatische Gesänge mit Zungen-Charleston und Gehirnstep“ stand auf dem Programm. Die jungen Musiker eroberten für sich weitere Instrumente. Bald spielten dann sieben Bandmitglieder zusammen 30-40 Instrumente bei ihren Auftritten. Friedrich Hollaender (geb. 1896 in London) war als Musiker und Kabarettist seit Jahren in Berlin bekannt, traf 1927 die Weintraubs Syncopators erstmalig und wollte sogleich mit ihnen zusammenarbeiten. Seine eingängigen „schmissigen“ Revuen wurden von der Band vor ausverkauften Häusern präsentiert. Den Auftritt mit 7 Klavieren, sämtliche Bandmitglieder an den Tasteninstrumenten, gabs nur einmal: in der Revue am 1. Weihnachtsfeiertag 1927 im Theater am Kurfürstendamm. Im Okt 1928 trat die Band in Kopenhagen auf, wozu man ein einmotoriges Flugzeug gechartert hatte, in dem sich „hoch oben in den Wolken ein Chaos ergab, ausgelöst von tutenden paukenden probierenden Weintraubs, mit Notenpulten, Instrumenten Koffern durcheinanderlaufend, welche nicht eine Sekunde am gleichen Platz verharrend“. Den Dänen hat vor allem der „prachtvolle Kunstpfeifer“ der Band gefallen. Zurück in Berlin, traten sie mit Josephine Baker auf, produzierten Schallplatten und spielten überall: in allen großen Theater und Kinos Berlins: beim Filmball, beim Berliner Presseball, beim Festbankett in der Staatsoper bis zu viermal am Tag!
1929 dehnten sie ihre Aktivitäten zum Film hin aus. Ihr berühmtester Film war „Der blaue Engel“ mit der jungen Marlene Dietrich. Bei deren Bewerbung begleitete der „kleine Friedrich“ Hollaender nach drei fehlerhaften Versuchen erst fehlerfrei, als die flotte Marlene, inzwischen mit gekreuzten Beinen auf dem Flügel sitzend, die Nylonstrümpfe auszog. In diesem berühmten Tonfilm komponierte Hollaender den Konflikt zwischen bürgerlicher Moral und freier Liebe schon im Orchestervorspiel, in dem er „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ kombinierte mit „Üb immer Treu und Redlichkeit“. Das blieb nicht der einzige Film für die Weintraubs Syncopators. 1928 gab es etwa 400 Kinos in Berlin für insgesamt 150.000 Zuschauer. Wie sich aus solchem Lebensgefühl wenig später der verbrecherische Nationalsozialismus entwickeln konnte, bleibt rätselhaft. Wieder gab es Tourneen durch ganz Deutschland, auch nach Wuppertal ins prächtige Thalia Theater an der Wupper, wo man sich zu dem Schüttelreim inspirieren ließ: „Stürzt einmal ein die Schwebebahn, dann zittre Fisch – und bebe Schwan“. Die Darstellung Albrecht Dümlings strotzt nur so von Sachkunde, Anekdoten, musikalischen Analysen, beschäftigt er sich doch seit Jahren mit der Musik der 20er Jahre und der NS-Zeit.
Wer alles über das Exil (1933-37) in den Niederlanden, in Belgien und der Schweiz (1933-1934), im faschistischen Italien (1934-1935) und über die Tourneen in Rußland (1935-1937) wissen will, der muß das Buch selbst lesen. Im stalinistischen Rußland wurde die Band mit offenen Armen empfangen. Man schätzte damals dort den Jazz, obwohl einige Jahre zuvor Maxim Gorki, der berühmte, den Jazz noch als „Musik der Degeneration“ bezeichnet hatte (1928 in der Prawda), während Lenin glaubte, „Die Kunst gehört dem Volk“. Jedenfalls amüsierte man sich in Rußland in der Zeit stalinistischer Greuel königlich, wenn die Syncopators schwierigste Posaunensoli, auf dem Bogen liegend, souverän ausführten oder bei Tanzeinlagen kurze Baströckchen trugen. Insgesamt wurden zwischen 1930 und 1937 80.000 Tournee-Kilometer zurückgelegt und unterwegs übrigens auch auf die ebenfalls tourenden Comedian Harmonists traf. Bei zunehmenden stalinistisch- bürokratischen Schwierigkeiten fuhr man mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Osten, gastierte in Japan und reiste nach Australien, wo Exilanten aus Europa alles andere als erwünscht waren. Die unsägliche Auseinandersetzung mit der australischen Musikergewerkschaft erwies sich als nahezu Schicksal bestimmend. Vor allem Juden galten als unerwünscht. Stefan Weintraub wurde seine Soldatenzeit im 1. Weltkrieg und das Eiserne Kreuz vorgeworfen. Es kamen Denunziationen über Spionage dazu. Angebotener Verzicht auf den Musikerberuf reichte der australischen, nationalistischen Bürokratie nicht, um Aufenthaltsgenehmigung oder gar Staatsbürgerschaft zu gewähren. Die Bedrohung der Lebensverhältnisse durch Flüchtlinge wurde damals wie heute als bedrohlich empfunden. Stefan Weintraub erhielt erst im Oktober 1945 die australische Staatsbürgerschaft.
Auf den letzten Seiten erläutert der Autor seine Quellen und unfaßbar umfangreichen Recherchen. Im Anhang finden sich das Verzeichnis der Anmerkungen und die Diskographie des Ensembles, außerdem ein Literaturverzeichnis und der Hinweis auf die Webseite zum Buch (www.conbrio.de/weintraubs). Dort finden sich Audio- und Videodateien, auf die im Buch mit dem Playersymbol ▷ hingewiesen wird. Elegant geschrieben, leicht und unterhaltsam zu lesen wird der Band allen Musikfreunden dringend empfohlen.
Albrecht Dümling – „Mein Gorilla hat ´ne Villa im Zoo. – Die Weintraubs Syncopators zwischen Berlin und Australien“
Musik und Zeitgeschichte Band 2.
2022 © ConBrio Verlagsgesellschaft Regensburg, 232 Seiten, broschiert, mit zahlreichen s/w Abbildungen - ISBN: 978-3-949425-03-05
24,90 €
Weitere Informationen: www.conbrio.de
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