„Als sei nichts gewesen“ (2)

Die Erinnerungen des Christoph Graf von Schwerin

von Joachim Klinger

„Als sei nichts gewesen“ (2)
 
Die Erinnerungen des Christoph Graf von Schwerin
 
Von Joachim Klinger

Man hat in Christoph Schwerins Erinnerungen nicht viel von einem Studium erfahren, aber 1955 wollte er ein Lebenskapitel abschließen und wichtige Entscheidungen für die Zukunft treffen. Mit 22 Jahren! Er ging nach Tübingen und bezog im Winter das größere von drei Zimmern in einem kleinen Haus in der Gartenstadt. So wurde er mein Zimmernachbar, und wir kamen uns näher, zumal sein Zimmer als einziges einen hohen Eisenofen hatte und also geheizt werden konnte. In dieser Situation führten wir lange Gespräche.
Ich war beeindruckt von diesem schlanken, hochgewachsenen, jungen Mann, der schon europäische Länder bereist hatte, die Familie Thomas Mann kannte und mich mit eigenartigen Texten fremder Dichter bekanntmachte. Paul Celan, René Char, Henri Michaux – was waren das für revolutionäre Sprachschöpfer!
Wenn Christoph Schwerin sprach oder vorlas, dann leuchteten nicht nur seine Augen. Das ganze Gesicht bekam hellen Glanz, und ich war überzeugt, zum ersten Mal in meinem Leben einem Genie zu begegnen. Ich legte die Bücher von Rilke, Benn und Carossa beiseite und las mit mittelmäßigen französischen Kenntnissen die neuen epochalen Verse aus Paris.
Mein großes Interesse an Lyrik veranlaßte mich auch, einen schmalen Gedichtband zu kaufen, dessen Autor ein Abenteurer, in Vietnam verschollener Legionär gewesen sein sollte.
 „Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße“  von George Forestier war von Kritikern und Künstlern hoch gelobt worden. Ich las und wurde unsicher, da war ein Klang, der mir zusagte, aber doch ...
Ich lieh das Büchlein an Christoph Schwerin aus. Schon nach kurzer Zeit gab er es mir zurück und sagte knapp und bestimmt: „Ein Scharlatan!“
Später stellte sich heraus, daß sich hinter der aufregenden Vita des Autors ein Verlagslektor mit dem Namen „Karl Emerich Krämer“ verbarg. Er schrieb zwar weiter, blieb aber unbedeutend.
 
Christoph Schwerin hatte in Tübingen drei Ziele für die Zukunft gesteckt:
1. Er wollte sein Studium mit der Promotion abschließen,
2. Er wollte sich mit seiner geliebten Renate verloben und sie bald heiraten;
3. Er wollte bei einem großen Verlag arbeiten, und zwar auf einem einträglichen Posten.
Er zeigte mir ein Foto von Renate, und ich wußte kein Wort zu sagen. Das Foto zeigte eine reife Frau – ich erfuhr, daß sie sich dem 30. Lebensjahr näherte -, und Christoph Schwerin war auch in meinen Augen jemand, der noch ein Mann werden wollte. Obwohl ich völlig unerfahren war, sagte ich mir: Das kann nicht gut gehen! Aber Christoph Schwerin überwand den Widerstand der Auserwählten, setzte sich über die Bedenken seiner Mutter hinweg und erreichte die Verlobung.
 
Der Plan, in Tübingen zu promovieren, aber scheiterte. Ein Freund hatte dort eine Arbeit über Brecht geschrieben. Er schreibt: „Als ich seinem Professor meinen Plan vortrug, in vollem Vertrauen auf den Freund, hatte der für Hofmannsthal nur eine Wertung zu bieten: Konventioneller Zimt!“
Christoph Schwerin verließ Tübingen verbittert und wandte sich an den S. Fischer Verlag, um Punkt 3 seines Plans zu verwirklichen. Dem Wunsch als Lektor tätig zu werden, konnte man zwar nicht entsprechen, aber Frau Bermann Fischer fand Gefallen an dem jungen blitzgescheiten Mann, und Christoph Schwerin wurde (mit schmalem Gehalt) Redakteur einer geplanten Enzyklopädie in der Fischerbücherei.
 
Christoph Schwerin schildert, wie er sich als blutjunger Anfänger zurechtzufinden sucht, welche Fehler er macht, auf welche Schwierigkeiten er stößt und wie er doch einige bemerkenswerte Erfolge erzielt. So gewinnt er den Bühnenautor Samuel Beckett für den Fischer Verlag, und auch René Char und Paul Celan werden Autoren dieses Verlags.
Wer sich für das Verlagswesen interessiert, wird diese beiden Kapitel mit wachsender Begeisterung lesen.
Auch der Roman „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak kam auf dem Weg über einen italienischen Verlag zum S. Fischer Verlag, wurde in die deutsche Sprache übersetzt und war ein unbeschreiblicher Erfolg. 20.000 Exemplare wurden täglich verkauft, bis die weitere Finanzierung des Drucks scheiterte. Der Bankier Hermann Josef Abs sprang ein und rettete den Verlag.
Schließlich gelingt auch das Vorhaben, eine deutsch-französische Ausgabe der Werke von Henri Michaux herauszubringen. Das Treffen mit dem Dichter in Paris, der an den Verlag Gallimard gebunden war, und die Begegnung mit Claude Gallimard ist so spannend geschrieben, daß dem Leser der Atem stockt.
„Im Insel Verlag“ setzt die Schilderung von Schwerins Tätigkeit im Verlagswesen fort. Spannungen, Rivalitäten, Intrigen setzten Christoph Schwerin zu, und er entschloß sich, einen eigenen Verlag zu gründen. Das Unternehmen scheiterte.
Rückblickend auf seine Tätigkeit beim Fischer Verlag, als Redakteur und später Lektor für französische Literatur, schreibt Christoph Schwerin später selbstkritisch: „Viele Jahre nachdem ich den Fischer Verlag verlassen hatte, machte ich mir über mein Verhalten oft Vorwürfe. Ich war zu introvertiert und zu jung, um zu bemerken, was um mich herum geschah, daß man auf meine Vorzugsstellung eifersüchtig war und Intrigen gegen mich knüpfte. Schließlich hielt ich mich rückblickend für so arrogant, wie es manche Menschen ... von mir behaupteten.“
 
Zwischen den Darstellungen der Arbeit im Verlagswesen sind Kapitel über Persönlichkeiten eingeschaltet, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Namen machen sollten: Maurice Girodias, Eugène Ionesco, Hans Sahl, Piotr Rawicz und Thomas Bernhard.
Besonders bemerkenswert erscheint mir die Schilderung der Beziehung zu dem wie ein Einsiedler lebender eigenbrötlerischen und schwer zugänglichen Thomas Bernhard. Auch hier schafft Christoph Schwerin eine gute Verständigungsebene. In diesem Kapitel finden sich Sätze, die seine „Kunst des Umgangs mit Dichtern“ erklären. Er schreibt: „Ich bin manchen Menschen nahe gekommen, weil ich mich von ihnen entfernt gehalten habe: Celan, Michaux, Bernhard. Ich suchte keine Vorteil aus ihrer Nähe zu ziehen ... habe sie nie um ein Interview gebeten noch ihr Vertrauen getäuscht ...“ und
„Wenn ich über Bernhard oder Celan geschrieben habe, tat ich es nicht, um ihnen zu gefallen. Was ich schrieb, das dachte ich so ...“
 
Christoph Schwerin wird schließlich nach vielen Enttäuschungen Korrespondent für Rundfunkanstalten und Zeitungen in Paris. Das ist gewiß eine interessante Tätigkeit, die Ansprüche stellt. Aber seine hohe Begabung wird im Grunde nicht gebraucht.
Ich haben einen Artikel aufgehoben, der am 5. 6. 1980 in „Die Welt“ veröffentlich wurde. Es geht um einen Werkstattbesuch bei Victor Vasarely in Paris. Ganz seinem Stil gemäß beschreibt Christoph Schwerin zunächst die Wohngegend des Künstlers, seine äußere Erscheinung, um dann auf sein Wesen einzugehen: „Alles, was Vasarely sagt, ist ernst, genau, gelegentlich von einem kleinen Lächeln begleitet. Er ist von jener ungekünstelten Höflichkeit, die das Ergebnis einer guten Erziehung ist, die zugleich Selbstbeherrschung und Distanz zu den Menschen verleiht ....“
 
Die Erinnerungen enden mit dem Bericht über die Beerdigung von Ernest Sello auf dem Montparnasse-Friedhof in Paris. Sello hatte die Werke Brechts ins Französische übersetzt.
Christoph Schwerin schreibt: „Der gleiche junge Rabbi, den ich auch bei anderen Totenfeiern gesehen hatte, sprach die Psalmen und sang mit engelhafter Stimme die Gebete.“
Christoph Schwerin hatte sich immer hingezogen gefühlt zu den Entrechteten und Verfolgten, den Opfern von Diktaturen und den im Elend lebenden Hinterbliebenen. Daß er hier insbesondere auf Juden traf, kann im Hinblick auf die vielen Untaten im 20. Jahrhundert nicht verwundern. Daß er hier aber auch dem kreativen Geist und dem scharfen Intellekt begegnete, war eine Erfahrung, die ihn mit Dankbarkeit und Bewunderung erfüllte.
 
Nur wenige Wochen nach Übergabe des Manuskripts seiner Erinnerungen verstarb Christoph Schwerin überraschend in Paris.
 
Christoph Graf von Schwerin – „Als sei nichts gewesen“
Erinnerungen  
1997 edition ost, Berlin,  414 Seiten, gebunden - ISBN-13: 9783929161939
Beim Verlag vergriffen – im Antiquariatsbuchandel gibt es noch wenige Exemplare.
 
Redaktion: Frank Becker