„Warte nur, balde“

Goethes Gedicht „Wandrers Nachtlied“

von Heinz Rölleke

„Warte nur, balde“
 
Goethes Gedicht „Wandrers Nachtlied“
 
Von Heinz Rölleke
 
Es gibt hin und wieder Versuche, die hundert wichtigsten Werke der Weltliteratur oder auch eine Rangfolge der gelungensten Gedichte zu erstellen. In beiden meist fragwürdigen Listen ist stets Goethe vertreten, und zwar mit seiner umfangreichen „Faust“-Dichtung sowie mit dem  kleinen Gedicht „Über allen Gipfeln ist Ruh“, das hier in einer Kurzinterpretation in Erinnerung gerufen werden soll. Der Text lautet in der Fassung Letzter Hand (Nr. 99 in der Werkausgabe von 1827):
 
                                   Ein gleiches.
                                  
                                   Ueber allen Gipfeln
                                   Ist Ruh',
                                   In allen Wipfeln                                
                                   Spürest du
                                   Kaum einen Hauch;
                                   Die Vögelein schweigen im Walde.
                                   Warte nur, balde
                                   Ruhest du auch.
 
Die rätselhafte Überschrift erklärt sich dadurch, daß unter der Nr. 99 ausnahmsweise zwei Texte auf einer Seite abgedruckt sind, während alle anderen Gedichte jeweils auf einer neuen Seite  beginnen. Hier aber folgt „Ein gleiches“ unmittelbar auf „Wandrers Nachtlied“ („Der du von dem Himmel bist“), so daß  dieser Titel auch für das in Rede stehende Gedicht gilt.
            Die Verse entstanden am 6. September 1780 auf dem Kickelhahn, wo Goethe sie mit Bleistift auf die Innenwand der Jagdhütte schrieb, im Druck erschienen sie erstmals 1815. Man diskutiert seit je darüber, ob Goethe hier auch autobiographisch spricht. Denn die zweifache Selbstanrede „du“ kann sowohl den Autor wie jeden Leser meinen – das eine schließt das andere nicht aus. Autobiographische Züge zeigen sich allerdings bei der Berufung des „Wandrers“ im Titel:  Goethe bezog diese Bezeichnung auf sich, denn unter diesem Namen war er in seiner Jugend der Gewaltmärsche wegen bekannt, die er von Frankfurt aus unternahm. Ganz deutlich wird der Bezug auf seine eigene Lebenssituation beim letzten Ausflug nach Ilmenau und auf den Kickelhahn am 27. August 1831, einen Tag vor sdem 82., seinem letzten Geburtstag. Der Geologe Johann Christian Mahr, Goethes Freund, begleitete ihn und hat eine denkwürdige Beschreibung dieser letzten Begegnung verfaßt:    
 
Ganz bequem waren wir so bis auf den höchsten Punkt des Kickelhahns gelangt, als er ausstieg, sich erst an der kostbaren Aussicht auf dem Rondell ergötzte […]. Hierauf fragte er: „Das kleine Waldhaus muß hier in der Nähe sein? Ich kann zu Fuß dahin gehen […].“ Wirklich schritt er rüstig durch die auf der Kuppe des Berges ziemlich hochstehenden Heidelbeersträuche hindurch bis zu dem wohlbekannten zweistöckigen Jagdhause […]. Eine steile Treppe führt in den obern Teil desselben. Ich erbot mich, ihn zu führen; er aber lehnte es mit jugendlicher Munterkeit ab, ob er gleich tags darauf seinen zweiundachtzigsten Geburtstag feierte. Beim Eintritt in das obere Zimmer sagte er: „Ich habe […] einen kleinen Vers hier an die Wand geschrieben […]. Sogleich führte ich ihn an das südliche Fenster der Stube, an welchem links mit Bleistift geschrieben steht:           
Über allen Gipfeln […]. Goethe überlas diese, wenigen Verse, und Tränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach in sanftem, wehmütigem Ton: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch!“, schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in den düstern Fichtenwald, und wendete sich darauf zu mir, mit den Worten: „Nun wollen wir wieder gehen.“ - Ich bot ihm auf der steilen Treppe meine Hülfe an, doch erwiderte er: „Glauben Sie, daß ich diese Treppe nicht hinabsteigen könnte? Dies geht noch sehr gut.“
           
Es kann kein Zweifel bestehen, daß der alt gewordene Goethe die letzten Worte seines Gedichtes nun auf seinen bevorstehenden Abschied vom Leben bezog; der Gedanke an eine baldige Nachtruhe steht höchstens noch ganz im Hintergrund. Als er die Verse 50 Jahre zuvor niederschrieb, stand die nächtliche Ruhe nach allen Mühen des Tages eindeutig im Vordergrund; Gedanken an den Tod, dem am Ende niemand entgehen kann, schwingen allerdings auch in dieser frühen Reflexion schon unüberhörbar mit. 'Schlaf ist des Todes Bruder' mag 1780 für den Autor das vorherrschende Bild  gewesen sein; 1831 hat es sich zur Erkenntnis 'Tod ist Schlafes Bruder' gewandelt. Mit dieser Einsicht wird deutlich, daß jedes Gedicht mehr oder weniger vieldeutig ist – es gibt nicht die einzig richtige Ausdeutung: Autor und Rezipient haben bei der Erklärung eines Gedichts im besonderen (und eines Kunstwerks im allgemeinen) das gleiche Recht.
            Was den Zauber, ja die Magie angeht, die diese schlichten Verse seit je ausstrahlen, so gibt es Dutzende von Antworten, unter denen der Leser auswählen kann, wenn er nicht nur seinen eigenen Auffassungen folgen will.
            Bei sinnvoller Rezitation wird deutlich, wie die Anordnung der Vokale von den hellen ü- und i-Lauten (in den Versen 1-4) unauffällig über die dunklen au (in Zeile 5) bis zu den am Schluss dominierenden a, u und au hinabsteigen. Ferner wird die Ruhe unweigerlich hörbar, von der in Vers 2 die Rede ist: In der Artikulation kann man „Ruh“ durchaus nicht beliebig ausdehnen, sondern man muß nach diesem Wort eine stumme Pause machen. Die sonst unbeschreibliche Stille über den Gipfeln wird doppelt erahnbar: In der Aussage und in der unweigerlich beim Vortrag eintretenden Ruhe. Das Wort „Hauch“ kann man hingegen dehnen, um so die langsam leiser werdenden Töne des abendlichen Waldes sinnlich erfahrbar zu machen; das Enjambement unterstreicht die gleitende Stille. Zum Ende geht dann der Blick auf die Ruhe, die der Mensch am Abend sucht und die er endgültig im Tod finden wird. Dabei ist das beschließende „auch“ von Goethe durchaus als ein wehmütiger, aber sanfter Ton der Ergebenheit aufzufassen, wie es Mahr beschrieben hat. Der Mensch auf seiner Lebenswanderschaft spielt am Ende keine besondere Rolle; vielmehr fügt er sich unaufgeregt und widerspruchslos in sein Schicksal (gerade die oft zu hörende Verdrehung der Aussage zu selbstherrlichem „bálde rúhest auch d ú “ macht das Besondere dieses Finales erkennbar). Die in der 2. Zeile angesprochene „Ruh“ steigt unter unauffällig und langsam nach unten: Von der überirdischen Stille über den höchsten Berggipfeln hin zu den in den noch leise bewegten Baumkronen hinab in die Baumgezweige und die in ihnen allmählich schweigenden Vögel und  hinunter bis hin zum Menschen, dem unruhigsten aller Wesen, der die Schöpfungsfolge des Alten Testaments und der Evolutionsforschung beschließt. Nachdem Gott am zweiten Schöpfungstag die Feste des Himmels (und ihre überirdische Ruhe) von der Welt geschieden hatte, schuf er auf dieser die Flora (Gras, Kräuter und Bäume), sodann die Fauna (die Vogelwelt und schließlich den Menschen; Genesis I.2-26). Diese Reihenfolge findet sich im Gedicht, wobei man erwägen kann, die überirdische Stille am Anfang einer jenseitigen Welt zuzuordnen, dem Gottesfrieden, den Goethe im vorausstehenden Gedicht als Abendfrieden, der zu den Menschen vom Himmel kommt, charakterisiert. Übrigens hat auch Hölderlin den Abendfrieden, den der Mensch ersehnt als Überirdisches wahrgenommen: „Nur eines weiß ich, Sterbliches bist du nicht“ (Friedensfeier).

            Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die acht Verse in Aufbau und Klang genau das sind, was sie inhaltlich aussagen: Ein vollkommenes Kunstwerk.
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2023