Ein grandioses Säufer-Poem

Wenedikt Jerofejew – „Die Reise nach Petuschki“

von Frank Becker

Titelzeichnung Bernd Pfarr (1958-2004)
Ein grandioses Säufer-Poem
 
Die Reisenden steuern den Moskauer  Kursker Bahnhof an. An diesem Bahnhof führt kein Weg vorbei, zumal, wenn man nach Petuschki will. Es ist jetzt die schlimmste Zeit für die gewaltigen Trinker, zwischen Schließung der Geschäfte und der Morgen­dämmerung - es gibt nichts! Doch dann endlich der Schnapsladen: mit der Gewißheit einer langen Bahnfahrt wird Stoff für die Reise gebunkert  - eine ungeheure Flaschenbatterie beult die Taschen.

Aberwitzige Gespräche, Diskussionen, Foren entspinnen sich im Laufe der rüttelnden und schüttelnden Bahnfahrt, zwischen Philosophieren und Saufen: „Wir brausen durch Kurskow ohne Aufenthalt - darauf sollte ich noch einen trin­ken!“ Alle halten mit, setzen wie Wenitschka die Flaschen an den Hals, trinken ohne Maß und reden. Reden über Suff, Weiber und Schnurrbärte, über Goethe und Schiller, Gorki, Turgenjew und Puschkin. „Wenn die Angst im Herzen wächst, muss man sie betäuben. Und um sie zu betäuben, muß man etwas trinken!“ Das tun sie konsequent und in beängstigenden Mengen: ein Gläschen Subrowka, ein paar Krügelchen Shigulin-Bier, Kubanskaja, Kräuterschnaps und Portwein, Roten, Rossijskaja, Zitronenschnaps und alles was Dröhnung hat. Und schnell noch einen Schluck, um den Brechreiz zu unterdrücken.

Der Rhythmus von Schienen und Schwellen mischt sich mit dem Vodka zu einem wilden Tanz - Bruderschaft! Ist das Ziel er­reicht? Eine Revolution wird gemacht, eine Republik gegründet und wieder aufgelöst – der Zug wird zum Mikrokosmos mit wirbelden Sternen. Wohin fahren wir? Sibirien? „Nein, in Sibirien kann man nicht leben. In Sibirien lebt überhaupt keiner, nur Neger. ... Lediglich einmal im Jahr schickt man ihnen aus Shitomir bestickte Handtücher, an denen sich die Neger dann aufhängen...“. Auf Petuschki zu werden die Rei­senden zu irrwitzigen Traumbildern nahe dem Wahnsinn und die verrückte Sauftour versinkt alptraumhaft in einem rasenden Wirbel von Visionen, einer kryptischen Apokalypse. Die Pro­tagonisten fallen förmlich aus dem Leben, haben die Welt verloren.. Nichts hat mehr Bestand oder Gültigkeit, nicht das Ziel, nicht mal die Hoffnung.

Jerofejews Buch, längst ein Klassiker der Trinkerliteratur und  Säufer- Poesie und in einer Reihe mit Hermann Harry Schmitz, Daniil Charms Bruno Schulz und Eugen Egner zu sehen, ist ein Stück bis zum derilierenden Ende voll grotesker Klugheit steckende großartige Literatur. Jerofejew muss Li-tai-pe gekannt haben, den Dichter der T'ang-Blütezeit, der genial von Klabund ins Deutsche übertragen von sich singt: „Ach, Brüder, lasst uns auf einen Rausch, der kein Ende nimmt, hof­fen!/Vergangenheit ist tot. Die Zukunft ungefährlich./ Un­sterblich nur ist Li-tai-pe - wenn er besoffen.“
 
Wenedikt Jerofejew – „Die Reise nach Petuschki“
Aus dem Russischen von Natáscha Spitz
© 2004 Piper (wohlfeile Sonderausgabe), 169 Seiten, gebunden, mit Anmerkungen der Übersetzerin
9,90 €
Weitere Informationen: www.piper-verlag.de