Die Puppe in der Puppe

"WMF - Wiedersehen macht Freude" - Ein hinreißendes Theaterexperiment an den Bochumer Kammerspielen

von Frank Becker
Inhaltsvolle Leere (gekachelt)



Ein Experiment: Zwölf Schauspieler treffen auf zwölf Zuschauer.


Konzept und Regie: Stefanie Lorey und Bjoern Auftrag  -  Bühne und Kostüme: Gabi Bartels  -  Lichtdesign: Marc Jungreithmeier
Mit: Manuela Alphons, Dagny Dewath, Veronik Nickl, Katja Uffelmann, Ute Zehlen, Thomas Anzenhofer, Mark Oliver Bögel, Henning Hartmann, Janko Kahle, Klaus Lehmann, Cornelius Schwalm, Klaus Weiss

Irrlichternde Rede

Ein gute Stunde Konzentration liegt vor dem privilegierten Zuschauer, der zu einer der wenigen

Foto © Birgit Hupfeld
Aufführungen dieses ungewöhnlichen Theaterstücks an den Bochumer Kammerspielen eine Karte bekommen hat. Zwölf Schauspieler sitzen in strenger Ordnung auf der Bühne an kleinen Tischen zwölf Besuchern gegenüber. Die einen sprechen simultan nach, was ihnen über ihre Kopfhörer aus dem Off an Text zugewiesen wird, die anderen sind vom ersten Moment an derart eingesponnen, daß die Welt "draußen" wie mit einem Fingerschnipp verschwindet.
Die Positionen scheinen fixiert: die Stühle am Boden festgeschraubt, die transparenten quadratischen Flächen der Tische gestalten die Nähe zum Gegenüber unveränderlich und nur durch Blicke überbrückbar - und wieder doch nicht, denn die Schauspieler bauen keinen wirklichen Kontakt zu ihrem Gast auf. Ich besuche wen, der mir was erzählt. Darf zuhören. Zwanzig Minuten lang eilen Sätze, Worte, Satzfetzen von Tisch zu Tisch, man wendet den Kopf ein wenig, um der durch den Raum irrlichternden Rede zu folgen, der Herr oder die Dame gegenüber holt sich die Aufmerksamkeit akzentuiert zurück.

Schach

Dann plötzlich kommt Bewegung in die Sache. Die Sprecher erheben sich, nehmen Haltung an, wechseln in stummer Choreographie Tisch und Zuhörer. Man erlebt: es ist völlig egal, wer da wem etwas erzählt und wer da wem zuhört - oder nicht. Doch, doch - jeder hört zu, gebannt, gespannt. Geht es doch darum sich selber wiederzufinden. Sich und seine Gedanken durch die Textfetzen, Monologe oder Mimik zu finden, wiederzusehen. WMF. Wiedersehen macht Freude. Das macht in der Tat Freude. Lorey und Auftrag haben Bochumer Bürger erzählen lassen. Aus ihrem Leben, ihren Gedanken. Die so gewonnene Textcollage wird den Schauspielern in Schnipseln oder großen Monologen souffliert, quasi zugeworfen, sie fangen den Ball auf und setzen den Text um. Das machen ausnahmslos alle brillant. Eine höllisch schwere Aufgabe, denn zum einen wissen sie nicht, wann sie mit welchem Textteil dran sind, zum anderen stellt das simultane Umsetzen hohe Anforderungen an ihre Kreativität. Das Ergebnis ist ein Theatererlebnis von hohem Rang, 1:1 sozusagen.

Abenteuer im Kopf

Das Tempo nimmt zu, die Intervalle des wie ein undurchschaubares Schachspiel ablaufenden Positionswechsels werden kürzer. Nach einer halben Stunde (man verliert auf der phantastisch ausgeleuchteten Bühne - Kompliment an
Marc Jungreithmeier! - ein bißchen das Gefühl für Zeit) wird Musik eingespielt, es gibt Sequenzen, in denen grimassiert wird, dann tauchen die Zuschauer ins Dunkel, während nur die Schauspieler im Spot sitzen. Einmal singen sie alle ein chinesisches Lied. Das ist rührend und gefällt. Es gibt keine Handlung, doch es passiert etwas - nein: nicht etwas, es passiert sehr viel. Wird der Zuschauer/Zuhörer durch die Teilnahme an den Gedanken Fremder zum Voyeur in deren Köpfen? Oder kann es sein, daß er vor wiederentdeckten eigenen Gedanken zurückprallt? Ein wenig von beidem, wenn man so durch die oft verschachtelten Gedankengänge in selbstbespiegelte Räume geführt wird, hilflose Leere erfährt, die an ausgeräumte, weiß gekachelte Metzgerläden oder Waschräume erinnert. Das plappert und plaudert, oft mit unendlich verschraubtem Inhalt, dann wieder scheinbar gänzlich ohne. Der Faszination dieses Abenteuers im Kopf anderer kann und will man sich nicht entziehen. Man bleibt gedankennah dran, wenn die Puppe aus der Puppe aus der Puppe geschält wird und man vor dem Nukleus steht. Haben Sie schon mal krümeliges Brot "abgeascht"?  Ich schon. Es gibt auch was zu lachen.
Das intime Experiment ist gelungen. Chapeau!

Weitere Informationen, auch über kommende Vorstellungen unter: www.schauspielhausbochum.de