Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft

Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (5)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft
 
Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (5)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Verstehen verstehen
 
Übrigens – als die Physiker in den 1920er Jahren das Tor zum Innersten der Welt aufgestoßen hatten, mußten sie feststellen, daß sie die Stabilität der Atome, also die Existenzmöglichkeit des materiellen Seins, nur erklären konnten, wenn sie bereits der anorganischen Natur die Tendenz unterstellten, bestimmte Formen zu bilden, wobei man die oben erwähnte Beobachtung der Radioaktivität nutzten konnte, um zu erkennen, daß Atome sich nach einer Umwandlung nicht auflösten, sondern wieder Atome wurden und in diesem Anderssein ihre Grundform bewahrten. Als beim weiteren Nachforschen auffiel, daß sich die innere Struktur der Materie bei diesen Prozessen einer anschaulichen Beschreibung entzog, fragte der junge Physiker Werner Heisenberg seinen Lehrer Niels Bohr, „Werden wir Atome überhaupt jemals verstehen?“ Der Gefragte zögerte, bevor er meinte: „Doch. Aber wir werden dabei gleichzeitig erst lernen, was das Wort ´verstehen´ bedeutet.“[1] Dilthey würde das nicht verstehen und sich wundern oder abwenden.
 
       Als „Die Stunde der Physiker“ schlug, wie ich sie in einem Buch mit diesem Titel beschrieben habe,[2] wurde auf jeden Fall Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft betrieben, wie gerade angedeutet, wobei mir insgesamt scheint, daß man ohne Rückgriff auf zumindest einen geisteswissenschaftlichen Begriff den historischen Erfolg der Theoretiker der Atome und des Lichts nicht verstehen kann (erklären kann man ihn erst recht nicht). Ich meine das Romantisieren der Welt, das Novalis zufolge unter anderem bedeutet, dem Bekannten die Würde des Unbekannten und dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Aussehen zu geben. Zum ersten Punkt: Bekannt ist, daß Materie stabil ist, und erklärt wird diese Stabilität nicht nur mit dem Formwillen der Atome, wie oben gesagt, sondern auch durch die Tatsache, daß sich Atome nur durch Quantensprünge ändern können, die aber nur eintreten, wenn ausreichend Energie verfügbar ist, was ebenso geheimnisvoll bleibt wie der Formwille. Zum zweiten Punkt: Gewöhnlich ist das Licht, das aus verschiedenen Quellen kommt, aber bei den Versuchen, seine Eigenschaften zu erklären, stellte sich heraus, daß es sowohl als Welle als auch als Teilchen agieren kann, und genau das macht es geheimnisvoll. Die Frage, „Was ist Licht?“, kann nicht mehr eindeutig beantwortet werden, und selbst Einstein hat nach fünfzigjährigem Nachsinnen über die Natur des Lichts das Handtuch geworfen und gemeint, er könne nicht sagen, was Licht ist.
 
       Es wurde gesagt, daß die Physiker damals den Zugang zum Weg in das Innerste der Welt gefunden hatten, und wenn sie sich und andere gefragt hätten, „Wo gehen wir denn hin?“, wäre ihnen vielleicht die Antwort des Novalis in den Sinn gekommen, „Immer nach Hause.“ Ich meine das wörtlich und ernst, denn als der erste Physiker dort angekommen war, wo Goethes Faust hinwollte, stellte er fest, daß er dort keiner Sache mehr entgegentrat, sondern sich selbst begegnete. Er traf auf seine Zeichen und Spuren, so wie es Novalis in seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ schildert, als der Wanderer sich in ein Bergwerk vorwagt und dort einem Eremiten begegnet, der über ein Buch verfügt, in dem Heinrich sich selbst und seine Geschichte findet. Im Innersten der Welt trifft der Mensch sich selbst, er kommt nach Hause, er findet seine Heimat und sein Geheimnis. Und hier bewahrheitet sich, was ich so laut wie möglich verkünden möchte. Die Naturwissenschaft hebt bei ihrem Vorgehen kein Geheimnis auf. Sie vertieft dafür das Gefühl für das Geheimnisvolle, das zum Menschen selbst gehört und ihn sogar ausmacht. Wie Novalis gemeint hat, als die Lehrlinge zu Sais den Schleier über der Wahrheit lüften konnten und darunter sich selbst erblickten– das Wunder des Wunders, wie der romantische Dichter schreibt, oder das „Geheimnis der Geheimnisse“, wie Charles Darwin im 19. Jahrhundert den Gedanken an eine Evolution des organischen Werdens und damit die Entstehung des Menschen benannt hat.
 
 
„Besser scheitern“
 
Wenn man mit anderen und etwas hart klingenden Worten ausdrücken will, daß die Naturwissenschaften die Wahrheit nur so ausdrücken können, daß sie ihr Geheimnis behält, kann man sagen, daß Darwin am Leben und Einstein am Licht gescheitert sind, aber die beiden sind natürlich nicht die Einzigen, der diese Erfahrung machen mußten. Scheitern im großen Stil gehört zur Geschichte der Naturwissenschaft und könnte den Geisteswissenschaftlern ein Fest sein – wenn sie sich nur um die Physik, die Biologie und die anderen Disziplinen mit ihrer Geschichte angemessen kümmern würden. Scheitern ist eine Grunderfahrung kleiner und großer Forschung, über die sich nachzugrübeln lohnt, wobei ich nach den genannten großen Lichtern mit der kleinen Forschung meine Doktorarbeit meine, die zwar abgeschlossen werden konnte und mir als Biophysiker auch einen Dr. rer. nat. verschafft hat, die aber nicht wirklich zufriedenstellend irgendein Verhalten des untersuchten Pilzes mit dem Namen Phycomyces erklären konnte. Delbrück selbst ist mit vielen Fragen an dem Organismus gescheitert, aber er hat sich mit seinem Lieblingsdichter Samuel Beckett getröstet, der übrigens im gleichen Jahr (1969) wie er den Nobelpreis bekommen hat. Bei Beckett kann man lesen: „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern“, was mich ermutigt, an dieser Stelle zu fragen, wie ein besseres Scheitern in meinem kleinen Fall hätte aussehen können. Es gibt hierauf in der Tat eine lohnende Antwort, wie mir scheinen will, weil sie den Blick auf einen historischen Wechsel freigibt, der Philosophen und Wissenschaftstheoretiker entzücken müßte und der sich auch bei dem Scheitern der Großen als nützlich erweisen könnte. Wenn jemand noch schnell wissen will, welche Geheimnisse Darwin und Einstein mit ins Grab genommen haben, kann man mit dem Hinweis antworten, daß beide nicht die Antworten, sondern die Fragen liebten. Das Schönste, was ein Mensch erleben kann, ist das Gefühl für das Geheimnisvolle, wie Einstein einmal geschrieben hat. Es liefert die Quelle der Kreativität, die sich in Kunst und Wissenschaft zeigt.[3]
 
       Bleiben wir in Delbrücks Laboratorium, in dem ich mich abmühte und in dem alle physiologischen, biochemischen, physikalischen Experimente unter dem Eindruck des Erfolges stattfanden, den die Molekularbiologie seit den 1950er Jahren feiern konnte. Dazu kann ich mir eine Nebenbemerkung nicht verkneifen: Die Idee einer Molekularbiologie und der Begriff sind schon in den 1930er Jahren aufgekommen, und sie sollten nicht der Genetik dienen, sondern helfen, soziale Probleme wie hohe Scheidungsraten oder zunehmendes Analphabetentum naturwissenschaftlich exakt zu klären, was die deutsche Zunft der Geisteswissenschaft, Abteilung Soziologie, zu meinem Bedauern bis heute nicht zur Kenntnis nimmt.[4] Das Konzept hatte Erfolg, und so kam es, daß in den 1970er Jahren alle Lebenswissenschaften als Molekularbiologie betrieben wurden, was zur Folge hatte, daß es in den Experimenten galt, die Moleküle in den Zellen zu finden, die Umweltreize in Reaktionen des Organismus verwandelten. Heute – ein halbes Jahrhundert später – denkt man völlig anders, und inzwischen ist die Rede davon, daß Pilze ein „entangled life“, ein verwobenes Leben führen, und zwar innen in ihren Zellen wie außen als Geflechte, und diesem organischen Gewebe kann man nicht mehr mit den ursprünglich eingesetzten Methoden auf die Spur kommen. Ein kundiger Philosoph könnte hier eine Dialektik der aufklärenden Wissenschaft ausmachen, die sich in jüngster Zeit darin zeigt, daß es Genforscherinnen und Genforschern im frühen 21. Jahrhundert zwar gelungen ist, das genetische Material eines Menschen – das humane Genom – offenzulegen, daß die Datenfülle aber das zur Folge hat, was bereits Robert Musil „als unermessliche Undurchdringlichkeit“ beschrieben hat. Es ist, wie Karl Kraus es gesagt hat: Je länger man ein Wort anschaut, desto fremder schaut es zurück. Je genauer man das Genom anschaut, desto fremder kommt es einem vor.
 
       Zurück zu Delbrück und seinem Doktoranden, die in den 1970er Jahren  nach Signalketten suchten, während sie heute sie nach Vernetzungen fragen würden, und eine lohnende kritisch-historische Aufgabe läge darin, zu verstehen, wie sich dieser historische Wechsel vollziehen konnte, und zwar nicht allein aufgrund der Tatsache, daß das molekulare Paradigma gescheitert ist, sondern auch wegen der zunehmenden Komplexität nicht nur in der Welt, sondern auch oder gerade in den Zellen, wodurch man auf das trifft, was Robert Musil bereits in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ als „unermessliche Undurchdringlichkeit“ bezeichnet hat. Eine weitere konkrete Frage an die Wissenschaftsphilosophen würde jetzt lauten, wie die Forschung im Angesicht solcher „unermeßlicher Undurchdringlichkeiten“ ihren Optimismus bewahrt und unerschrocken weitermacht und welche Rolle die Digitalisierung mit der besseren Handhabbarkeit von ständig wachsenden Datenmengen dabei spielt. Welche Natur des Menschen zeigt sich hier und wie kann man die leidenschaftliche Neugierde erklären und verstehen, die den Wissenschaftsbetrieb antreibt?
 

[1] Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1969, S. 64

[2] Ernst Peter Fischer, Die Stunde der Physiker, München 2022

[3] Albert Einstein, Mein Weltbild, Berlin 1962 (und viele andere Ausgaben)

[4] Ernst Peter Fischer, Wie der Mensch seine Welt neu erschaffen hat, Heidelberg 2013


© 2022 Ernst Peter Fischer
 
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