„der, den ich liebe“

Helga Schubert – „Der Heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“

von Johannes Vesper

„der, den ich liebe“
 
Helga Schubert im literarischen Pflegetagebuch
über zwei alte Liebesleute
 
Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe“ (Matthäus 6, Vers 34). Dieser Vers ist dem Stundenbuch der Liebe vorangestellt, und die Erzählung, die wie ein Tagebuch anmutet, beginnt damit, daß Derden (der Mann, den sie liebt) im Pflegebett bekennt: „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant“. Was meint er damit? Weiß der 96-jährige, was er sagt? Oder ist das nur die restliche Fassade? Seit 58 Jahren sind sie ein paar, alte Liebesleute, und jetzt versorgt die Autorin ihren dementen Mann pflegerisch rund um die Uhr. Dabei hat er als Professor an der Universität viele Bücher geschrieben und mehr als 1300 Bilder gemalt, im letzten Jahre nur allerdings nur noch zwei. Eines davon zeigt den Blick auf die Magnolie vor dem Krankenzimmer, die im Frühjahr hell in den blauen Himmel blühte, im Sommer grünte und grünte, im Herbst die Blätter verlor und im Winter weiß beschneit wurde. Das ganze Jahr hat er daran gemalt und immer wieder übermalt. So spiegelt das Bild seine Geschichte des Jahres.
Aktuell aber wird Tag für Tag der Beutel des Blasenkatheters geleert, immer wieder die nasse Windel gewechselt. Für die Autorin und zärtlich pflegende Ehefrau ist der Tag gut gelaufen, wenn er zufrieden und satt vor dem Einschlafen ihre Hände hält und glücklich ist sie, wenn er plötzlich und überraschend zitiert: „Du bis min, ich bin din, des sollt du gewis sin…..“. Aus solchen Momenten zieht sie ihre Kraft.
 
Erotische Erlebnisse scheinen im Rückblick für ihre Beziehung fast minder bedeutsam als die gemeinsamen literarischen Erlebnisse, z.B. mit den Morgenstern-Gedichten beim Zelten ein halbes Jahrhundert zuvor. Der Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ charakterisiert sehr zutreffend die Gefühle der früheren Psychotherapeutin, die nachts nicht nur den Atem des Kranken, sondern auch Schubert-Lieder hört; „Liebe ist ein süßes Licht…“.
Dabei macht sich gelegentlich durchaus auch Verzweiflung breit bis hin zu grausigen Suizidüberlegungen. Wie lange wird sie sich ihre inneren Bilder von gemeinsamen Spaziergängen am Nordseestrand, von duftenden Linden in die Erinnerung rufen können? Ihre nächtlichen Träume werden vom Babyphon bei jeder Kleinigkeit gestört. Da hilft dann eine Tafel weiße Schokolade. Die Schwierigkeiten und Belastungen der Pflege werden schonungslos beschrieben, gut gemeinte Ratschläge von Freunden und Verwandten helfen ihr auch nicht weiter. Gedanken, welchen Vorteil sein Tod brächte, sind durch ein inneres Verbot tabu, aber sie lassen sich nicht abweisen: Gibt es Hoffnung für eine Phase selbstbestimmten Lebens jenseits von Waschen, Rollstuhl schieben, Medikamente verabreichen, Trost spenden, verschmutzte Bettwäsche wechseln, Ersatzpflege zu organisieren? Wie lange sind lebensverlängernde Maßnahmen (noch) gerechtfertigt?
 
Es gibt wohl keinen, der sich ein solches Ende wünschen würde. Befriedigender Konsum, Golfspiel und Kreuzfahrten, am Ende schmerzlos aus Wohlbefinden heraus tot umfallen: das erlebt nicht jeder. Am Ende des Lebens kein Siechtum, niemandem zur Last fallen, das ist durchaus nicht die Regel. Zu bedenken, daß wir sterben (heutzutage auch pflegen!) müssen, wurde schon im Alten Testament empfohlen. Dieses Buch könnte dem Interessierten einen Einstieg bieten, nicht nur darüber nachzudenken, auch über Liebe, Partner, Freundschaft, das eigene Lebensende. „Ein bißchen Sahnejoghurt im Schatten, eine singende Amsel, Stille“, das wäre doch was, wenn die Seele auf Reise geht. Und die Pflegeperson, die zurückbleibt? „Der morgige Tag wird für das Seine sorgen“. Damit endet das bewegende das Buch.
 
Helga Schubert – „Der Heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“
© 2023 dtv Verlagsgesellschaft, 265 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-423-28319-9
24,- €

Weitere Informationen: www.dtv.de