Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft

Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (8)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft
 
Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (8)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
 
Kreativität im Leben
 
Das Zusammengehören von Plan und Ausführung ist nun nichts Neues für eine Geisteswissenschaft, nämlich die Kunstgeschichte, die dies vom Entstehen eines Kunstwerkes her kennt, und die Tatsache, daß kaum ein moderner Genetiker auf diese Verbindung aufmerksam wird, kann als Beleg für eine zu wenig ernst genommene Beobachtung von Gregory Bateson dienen. Der britische Anthropologe hat in seinem Buch über „Geist und Natur“ den „Verlust des Sinnes für ästhetische Einheit“ in unserer Zeit beklagt, und er sieht hierin einen „erkenntnistheoretischen Fehler“.[1] Ihn begeht die moderne Genetik, wenn sie nur nach materiellen Einheiten schielt und meint, allein rational-analytisch das Gen als Kausalfaktor verstehen zu können, während es doch auch ein Formfaktor ist. Diese ästhetische Komponente des Gens zeigt sich durch den Begriff der organischen Form, mit dem sich sagen läßt, daß sowohl die Gene die Natur gestalten als auch umgekehrt die Natur die Gene. Gene bringen Menschen hervor, und Menschen bringen Gene hervor, und zwar nicht in einem Reagenzglas, sondern bereits in dem Sinn, den Immanuel Kant formuliert hat, als er darauf hinwies, daß wir die Gesetze der Natur nicht in ihr finden, sondern ihr vorschreiben. In diesem letztlich romantischen Konzept läßt sich die Natur nur verstehen, wenn ihr Forscher eine Form oder Gestalt geben und damit so agieren, wie Künstler es tun. Und mir scheint zum einen, daß dieser kreative Schritt schon auf der Ebene der Gene anfängt, denn Gene bilden und werden gebildet. Mir scheint aber auch zum zweiten, daß diese ästhetische Einheit der Bildung oder des Bildens als Grundlage für ein eleganteres Verständnis der Vorgänge dienen könnte, mit denen das Leben sich selbst hervorbringt (eben bildet), und dieser Gedanke soll im Folgenden abschließend näher ausgeführt werden, wobei ich mich vielleicht zu kurz in der Darstellung der Ergebnisse der Genetik fassen muß.
Es kommt auf den Grundgedanken an, und an ihm führt in meinen Augen kein Weg vorbei: Kein Leben – vor allem kein menschliches Leben – wird so nach Plan angefertigt, wie es bei einem Industrieprodukt geschieht, etwa bei einem Auto oder einer Waschmaschine. Das hierfür angewandte mechanische Vorgehen ist doch auch nur möglich, wenn schon vorher jemand existiert, der die Instruktionen lesen und umsetzen kann. Für ihn, den Umsetzer, muß es auch einen Plan gegeben haben, und zwar bevor er tätig wurde. Und genau dies kann in dem Rahmen einer Zelle nicht gelingen.
 
Das Konzept der Programmierung stiftet nur Verwirrung, weil man bei diesem Vorgang Plan und Ausführung trennen will. Dabei gehören beide eng zusammen, wie die jüngsten Einsichten der Entwicklungsbiologen zeigen, die im Chor der Programmierer leicht überhört und nicht adäquat gedeutet werden. Die Gene und ihre Auswirkungen gehören sogar so eng zusammen, daß man an Stelle des Maschinenbildes etwas viel Schöneres setzen kann, wie bereits angedeutet worden ist. Das neue Bild von der Entfaltung des Lebens zeigt kein Programm, das abläuft, wenn Menschen und andere Lebewesen entstehen. Es zeigt vielmehr so etwas wie einen Schöpfungsvorgang, wobei nicht die Kreativität eines Gottes, sondern die eines Künstlers gemeint ist. Vielleicht entstehen Menschen (und andere Lebensformen) dank der Gene so, wie die Werke eines Malers entstehen, und in diesem Fall kämen endgültig die Geisteswissenschaften zu Wort, denn eine künstlerische Produktion verstehen die Naturwissenschaften ganz sicher nicht ohne Rückfragen in der anderen Fakultät.
Ich schliesse mich damit ein, und mein einziges Argument, mich trotzdem auf die Kunst und den Weg zu einem Kunstwerk einzulassen, besteht darin, durch die eigene Bedürftigkeit den Beistand der anderen Kultur zu erbitten. Unter dieser Vorgabe soll jetzt versucht werden, zu erläutern, warum die genetischen Formen der Natur so entstehen wie die artistischen Formen der Menschen.
Wenn ich nicht völlig daneben liege, fängt beim Malen der Prozeß des Hervorbringens mit einer Vorstellung im Kopf des Künstlers oder der Künstlerin an. Seine Fortführung hängt von den Ergebnissen ab, die im Laufe der Bildentstehung auf der Leinwand sichtbar werden. Und was die Embryonalentwicklung angeht, so fängt der Prozeß mit Vorgaben im Kern der Zelle an, und seine Fortführung hängt von den Bildungen ab, die im Laufe der Zeit entstehen und von der Umwelt registriert werden und auf das sich bildende und gebildete Leben zurückwirken, und es ist zwar längst klar, wird aber nicht ernst genug genommen, daß das Erbgut nicht nur Informationen liefert, sondern sie auch empfängt, um zu wissen, an welcher Stelle des werdenden Lebens es seine Aufgaben erfüllen muß, und die Stelle ist räumlich wie zeitlich gemeint.
 
Die Details können hier keine Rolle spielen. Wichtig ist ein zentraler Punkt, der sich wie folgt formulieren läßt: Wer die Entstehung eines Bildes beschreibt und dabei den Machenden vom Gemachten trennt, geht an der Sache vorbei. Und genau dies gilt für die biologische Entwicklung. Bei ihrer Beschreibung sollte man nicht versuchen, das Bildende von dem Gebildeten zu trennen, weil die Gene und ihre Produkte in kontinuierlicher Wechselwirkung stehen. (Es ist meiner Ansicht nach dieses Zusammenspiel, das empfindlich gestört wird, wenn es zum Beispiel an das Klonieren geht, vor dem alle Angst haben. Der Menschenklon muß ohne all die Kreativität auskommen, die das Leben im Verlauf der Evolution erwerben mußte, um zu lernen, sich selbst hervorzubringen. Mit dem Klonieren fällt die Wissenschaft hinter die Geschichte des Lebens zurück, weshalb aus diesen Gründen dringend von allen Experimenten in diese Richtung abgeraten werden sollte.)
Wenn man alles auf einen Begriff bringen will: Gene spulen keine Programme ab, Gene agieren vielmehr kreativ. Die Gesamtheit der Gene – also das, was heute Genom heißt – verfügt über Kreativität. Es ist riskant, den Begriff der Kreativität in die Biologie einzuführen, aber es gibt an dieser Stelle sehr gute Gründe, dies zu tun. Sie stecken vor allem in den Formen, die Gene wirksam hervorbringen, denn sie gefallen den Menschen und lassen sie von Schönheit sprechen – der Schönheit der Natur nämlich. Wenn Organismen sich selbst genetisch hervorbringen, entstehen nicht organische Reaktionsbehälter, die funktionieren, sondern lebendige Formen, die Menschen gefallen.
Natürlich erwartet man Kreativität weniger bei Genen und mehr bei Dichtern, zum Beispiel bei Vladimir Nabokov, der hier genannt wird, weil er helfen kann. Der Vater von „Lolita“ hat einmal erzählt, daß nicht nur er selbst, sondern seine ganze Familie Farben hören kann, und zwar mit einem besonderen Twist. Während der Buchstabe M für Nabokov selbst rosa und für seine Frau blau ist, erscheint dem Sohn dabei die Farbe Lila, also genau die Mischung, die sich beim Malen mit den elterlichen Farbtönen ergeben würde. Eine Tatsache, die Nabokov mit den wunderbaren Worten kommentiert hat, „So als ob die Gene Aquarellisten wären.“
 
Es wird hier vorgeschlagen, diese spielerisch klingende Idee ernst zu nehmen und sich vorzustellen, daß Gene malen und Farben produzieren können. Und sie tun dies, wenn es lebendigen Organismen gelingt, sich selbst als gestaltende und gestaltete Wesen hervorzubringen. Um diese künstlerische Vorstellung an die naturwissenschaftlichen Kenntnisse anzuschließen, wird daran erinnert, daß Gene es einer Zelle erlauben, Proteine herzustellen. Die Vielfalt der Aufgaben, die diese Moleküle übernehmen, kann kaum überschätzt werden. Proteine transportieren Sauerstoff, sie empfangen Licht, sie bewegen Muskeln, sie zerlegen die Nahrung und vieles mehr. Eine besondere Klasse von Proteinen hat die Eigenschaft, direkt mit den Genen selbst in Kontakt treten und ihre Aktivität regulieren zu können. Sie sollen Master-Proteine heißen, und zwar einfach deshalb, weil die Herstellung anderer Proteine von ihnen abhängt.
Wenn zum Beispiel eine Pflanze heranwächst, lassen sich in den Zellen unterschiedliche Aktivitätsmuster von Master-Proteinen finden. Mit Hilfe dieser – dem Auge ursprünglich nicht zugedachten, dank technischer Hilfe ihm inzwischen aber doch zugänglichen – Muster läßt sich zum Beispiel identifizieren, von welcher Stelle eines frühen und zunächst noch unförmigen Zellverbands später ein Frucht- oder ein Blütenblatt herauswächst, und entsprechendes gilt für tierische Lebensformen wie zum Beispiel Fliegen, bei denen sich mit entsprechenden Mustern identifizieren läßt, welche Positionen in einem zunächst gestaltlosen Zellhaufen im Laufe der Entwicklung zu einem Auge oder einem Bein umgeformt werden.
 
Tatsächlich haben die Entwicklungsbiologen in den letzten Jahrzehnten mit Hilfe gentechnisch vorbereiteter Methoden zweierlei bemerkt: Zum einen verfügen sämtliche Organismen über einen Vorrat an Master-Proteinen (und den dazugehörigen Genen), die in der frühen Phase der Entwicklung in Erscheinung treten und durch ihr Aktivitätsmuster festlegen, was aus diesen so bestimmten Zellen wird. Bei diesem Schritt könnte man von einer Interpretation reden, um an dieses schon erwähnte Konzept zu erinnern. Eine Interpretation ist allgemein gesprochen ein Vorgang, bei dem in einem gegebenen Rahmen unter mehreren Möglichkeiten eine Wahl getroffen werden kann, wobei die Entscheidung oder die Auswahl durch Informationen bedingt ist, die historisch zustande gekommen sind – im Fall der Biologie ist damit die evolutionäre Geschichte gemeint. Und zum zweiten läßt sich mit dem Vorrat an Master-Proteinen ein Muster bilden, das man auch ein Gewebe nennen könnte und dessen Form im Verlauf des weiteren Wachsens nach und nach verfeinert und ausgearbeitet wird – genau so, wie es beim Malen eines Bildes passiert. Deshalb hat der britische Biologe Enrico Coen den Vorschlag gemacht, sich die Master-Proteine als verborgene (innere) Farben vorzustellen, mit denen das Gemälde des Lebens seinen Anfang nimmt.[2]
 
Der entscheidende Punkt, der den Vergleich zwischen dem Malen und dem Wachsen ermöglicht, steckt in der Wechselwirkung. Die Farben kommen von Genen und beeinflussen Gene. Entsprechend gilt, daß die Farben auf der Leinwand von einem Maler stammen und auf ihn zurückwirken. Kreativität steckt unter anderem in der Fähigkeit, auf Dinge zu reagieren, die zuvor geschehen sind. Und in beiden Fällen agieren die Akteure nicht beliebig, sondern unter historischen Vorgaben. Der Maler ist durch seine Zeit und Kultur geformt, und die Gene führen ihre evolutionäre Geschichte mit sich.
 
Nach diesem phantastischen Aufstieg können die molekularen Aspekte der Homöogene näher in den Blick genommen werden. Ihre Entdeckung hat gezeigt, daß das eben in aller Kürze vorgestellte Konzept der Farbmuster weit mehr als die bloss bildhafte Beschreibung eines komplexen biologischen Geschehens ist. Vielmehr hat sich gezeigt, daß Insekten, Wirbeltiere und Pflanzen solch eine „Farbkarte“ gemeinsam zukommt, und inzwischen läßt sich sagen, daß diese Einheit des Bauplans seit über 100 Millionen Jahren vorliegt und erhalten geblieben ist. Von den Genen, die dazu beitragen, sind einige Abschnitte besonders stabil, nämlich die oben erwähnten Homöoboxen, die es unter anderem in Fliegen, Mäusen und Menschen gibt. Sie bilden einen Teil der Gene, die für die Master-Proteine verantwortlich sind. Genauer gesagt liefern sie das Stück, mit dem sie ihre Aufgabe konkret ausführen können, nämlich das Erkennen und Regulieren anderer Gene.
Natürlich zögert man bei dem Gedanken, die Tätigkeit eines Malers und das Treiben der Gene zu vergleichen, und meine knappen Ausführungen an dieser Stelle konnten bestenfalls die Richtung andeuten, die zu gehen ist, um den Zusammenhang ernsthaft herzustellen. Doch kann mit dem Konzept des Malstils deutlich gemacht werden, daß der kreative Künstler zum Beispiel nicht jede Freiheit verfügbar hat und ähnlich gebunden wie Gene ist. Leonardo da Vinci war sicher ein kreativer Mensch, aber er hatte seinen Stil und von dem kam er nicht ohne weiteres los. Bei seiner Arbeit an der Staffelei ist immer ein „da Vinci“ und nie ein „Raffael“ oder gar ein „Picasso“ entstanden. Dem Malstil entsprechen die verborgenen Farben der Master-Proteine. Sie sorgen auf ihre Weise dafür, daß aus einem Schwanenei immer nur ein Schwan und niemals eine Ente heraustritt.
 
Ich bin davon überzeugt, daß Menschen das Leben verschenken, wenn sie versuchen, es wie eine Maschine zu verstehen. Da läuft kein Programm ab, wenn Organismen sich selbst hervorbringen. Vielmehr agieren die Gene kreativ, um die Kunstwerke des Lebens zu schaffen, die Menschen gefallen und von ihnen begehrt werden. Es gilt sowohl zu verstehen, wie die Gene etwas verursachen, als auch, wie sie etwas formen. Allein mit physikalischer Hilfe läßt sich weder begreifen, wie die Formen des Lebens geschaffen, noch kann man begründen, warum sie zuletzt immer auch ästhetische Qualitäten haben und Menschen gefallen. In all diesen Fragen können die Geisteswissenschaften helfen. Wie Nabokov gesagt hat: Es ist wirklich so, als ob die Gene Aquarellisten wären, und zwar sehr geschickte und gute. Könnte es nicht sein, daß von dem Augenblick an, in dem wir Menschen beginnen, sie so zu verstehen, jeder Einzelne von uns anfängt, sinnvoller mit dem Erbgut umgehen? Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik. Wer denn sonst?
 
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Ein Nachtrag: Der 1906 in Berlin geborene Max Delbrück ist am Ende der 1970er Jahren schwer erkrankt und im März 1981 in Pasadena gestorben. Kurz vor seinem Tod hat er mich gebeten, seine Biographie zu schreiben, die mich zum Wissenschaftshistoriker hat werden lassen und 1985 unter dem Titel „Licht und Leben“ im Konstanzer Universitätsverlag erschienen ist. Darin erzähle ich auch von einem Vortrag, den Delbrück 1949 gehalten hat, als eine Akademie in Connecticut ihn gebeten hatte, sich zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft zu äußern. Delbrück nannte seinen Beitrag „Die Pipette ist meine Klarinette“ und stellte darin fest, daß bei dem Symposium zwar die Naturwissenschaftler den Geisteswissenschaftlern zuhörten, umgekehrt aber wenig Interesse zu spüren war, was er bedauerte und bis heute traurig stimmt. Dabei haben Künstler und Wissenschaftler Delbrück zufolge etwas gemeinsam: Beide finden keine bessere Möglichkeit, sich von der Welt zurückzuziehen und gleichzeitig mit ihr verbunden und für sie da zu sein, als in ihrer kreativen Arbeit.
 
- Finis -


[1] Gregory Bateson, Geist und Natur, Frankfurt am Main 1987
[2] Enrico Coen, The Art of Genes, Oxford 1999


© 2022 Ernst Peter Fischer