Lyrik für die Ewigkeit?

„Der ewige Brunnen – Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten“

von Frank Becker

Der ewige Brunnen
 
Lyrik für die Ewigkeit?
 
So wie sich das Leben stets erneuert, das Denken, Fühlen und Sehen, erneuert sich unter dem Wind der Zeit auch die Literatur, bildet neue Formen, Farben und Inhalte. Die Lyrik ist dabei eine besonders sensible Gattung. In ihrer kurzen Form vermag sie auf meist kleinem Raum die Befindlichkeit von Menschen in ihrer Zeit abzubilden. Dichter steigen im Licht ihrer Epoche an ihrem Firmament leuchtend auf, werden gelesen, gefeiert, diskutiert, bewahrt – oder gehen verloren, fallen den Windrichtungen der kulturellen oder politischen Veränderungen zum Opfer. Die einen werden in den Olymp der ewigen Literaturen aufgenommen, andere verschwinden sang- und klanglos im Orkus des Vergessens oder der Ablehnung.
Seit jeher werden Gedichte gesammelt, nach Themen oder Chronologien geordnet und sofern möglich in Form von umfassenden Anthologien dem lesenden Publikum zur Verfügung gestellt. Wie so vieles im Bereich der Literatur soll auch eine solche erste Gedicht-Sammlung auf Goethe zurückgehen, der zu diesem Zwecke von der Bayerischen Staatsregierung angefragt wurde. Land läufig bekannt wurden – und sind es bis heute – die großen Sammlungen von
 
- Ernst Theodor Echtermeyer – „Mustersammlung deutscher Gedichte für gelehrte Schulen“ (Halle 1836), 1936 von Richard Wittsack, seit 1956 von Benno von Wiese und seit 1990 von Elisabeth K. Paefgen (seit 2005 zusammen mit Peter Geist) neu bearbeitet
- Ludwig Reiners – „Der ewige Brunnen“ (1955 C.H. Beck), 2005 von Albert von Schirnding erstmals grundlegend überarbeitet
- Karl Otto Conrady – „Der große Conrady / Das große deutsche Gedichtbuch“ (Königstein 1977), zahlreiche Neubearbeitungen bis 2008 (Der Große Conrady. Das Buch deutscher Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Erweiterte Neuausgabe. Verlag Artemis & Winkler in der Patmos Verlagsgruppe, Düsseldorf)
 
Gehörte früher eine solche Sammlung in den Bücherschrank des bürgerlichen Hauses, ist die Bedeutung eines solchen lyrischen Hausschatzes in neuerer Zeit spürbar zurückgegangen. Umso wichtiger ist das Unterfangen, solche bekannten, zu Teilen aus der Zeit gefallene Anthologien nicht nur am Leben zu erhalten, sondern sie den Zeitläufen anzupassen, sie durch Neues zu ergänzen, Überkommenes zu bewahren, Überholtes hingegen zu streichen. Die Verantwortung eines Herausgebers zu entscheiden, was künftig gelesen werden soll, ist dabei enorm groß. Welcher Dichter, welches Gedicht wird gestrichen, welcher Lyriker, welcher Text neu aufgenommen? Nicht nur der Zeitgeschmack, auch politische und soziale Umbrüche spielen in vielen Fällen eine Rolle.
 
Eine Gelegenheit zum Betrachten bietet sich aktuell bei der Neuausgabe eines der oben genannten drei Standardwerke, nämlich von „Der ewige Brunnen – Deutsche Gdichte aus zwölf Jahrhunderten“ bei C.H. Beck, die seit März 2023 mit weit über 1.000 Gedichten, 68 Jahre nach der von Ludwig Reiners veranstalteten Erstausgabe von 1955, aus der Hand von Dirk von Petersdorff vorliegt. Die zwischenzeitlich von Albert von Schirnding bearbeitete zweite Ausgabe sparen wir hier aus.
Bezeichnend und durchaus charmant ist, daß beide, Reiners wie Petersdorff ihre Auswahl ihren Müttern widmen, denen sie die Grundlagen ihrer Kenntnis der deutschen Lyrik verdanken.
Nur unwesentlich unterscheiden sich die 25 bzw. 24 Themenbereiche, in die Reiners und Petersdorff ihre hingegen durchaus unterschiedlichen Auswahlen zusammenfassen.
Der Verlag kommentiert: „Die Natur wird besungen und die Lebenskunst, es gibt Gedichte zum Lachen und politische Lyrik, Gedichte von Heimweh und Fernweh, von Glaube und Zweifel. (…) In dem schier unerschöpflichen Lesebuch spiegeln sich die Lebenserfahrungen von Jahrhunderten. In dieser Neuausgabe mit insgesamt 1.200 Gedichten hat Dirk von Petersdorff berühmte und kanonische Gedichte mit frischen Stimmen aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart vereinigt.
Von Brentano bis Bachmann, von Goethe bis Gernhardt, von Luther bis Udo Lindenberg reicht die Bandbreite der Autorinnen und Autoren, (…). Dirk von Petersdorff hat die Anthologie bis in die Gegenwart fortgeführt. Er hat mehr Gedichte von Frauen als je zuvor aufgenommen und das kulturelle Spektrum der Auswahl erweitert. Erstmals stehen im neuen «Ewigen Brunnen» auch einige erstklassige Songtexte. (…) So finden sich hier Gedichte über die Jugend und über das Alter, über die Höhen und Tiefen der Liebe, über Aufbrüche und Umbrüche, Ermutigung und Trost.“
 
Befaßt man sich nun auszugsweise systematisch mit der Zusammensetzung der beiden zu vergleichenden Ausgaben der Anthologie, fallen Augenblicklich und augenscheinlich wesentliche Unterschiede auf, die sicher nicht nur auf den Zeitgeschmack, sondern sehr wesentlich auf die ganz persönliche Sicht der Herausgeber schließen lassen.
Hatte z.B. Reiners 1955 die Expressionisten August Stramm, Alfred Lichtenstein, Paul Boldt und Jakob van Hoddis nicht auf der Liste, sind alle drei bei Petersdorff vertreten. Ebenso verhält es sich bei Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky, die Petersdorff mit einigen Einträgen ebenso würdigt. Bei beiden Herausgebern bekommt Matthias Claudius angemessen Raum, sein Urenkel Hermann Claudius hingegen kommt bei Reiners einmal vor, bei Petersdorff gar nicht. Die heute hoch geschätzte Else Lasker-Schüler war bei Reiners gar nicht vertreten, bei Petersdorff wird ihr viel Platz eingeräumt. Apropos viel Platz. Während Reiners den Dichterfürsten Goethe mit ca. 130 Beiträgen über die Maßen berücksichtigte, hat Petersdorff das Goethe-Kontingent mehr als halbiert. Immerhin hat Hermann Broch Einzug in den Ewigen Brunnen halten können, und auch Hanns Dieter Hüsch ist mit einem seiner besten Texte dabei (Für wen ich singe). Daß beide Dr. Owlglass schätzen, freut, nicht jedoch daß Reiners Bertolt Brecht gar nicht, Petersdorff aber Brecht und Johannes R. Becher im Übermaß feiert.
 
Daß durch die Zeit ihrer Geburt 1955 viele noch gar nicht hätten berücksichtigt werden können wie z.B. Jörg Fauser oder Wolf Wondratschek liegt auf der Hand. Man mag aber  trefflich darüber streiten, ob zeitgenössische Song-Texte wie von Herbert Grönemeyer, Judith Holofernes oder Udo Lindenberg (gleich dreimal) in eine solche Sammlung gehören oder Spaßvögel wie Max Goldt und Heinz Erhardt. Daß aber der Herausgeber sich selbst für so unverzichtbar hält, daß er gleich drei seiner eigenen Gedichte in den Kanon der ewigen deutschen Lyrik aufgenommen hat, hat Gschmäckle.
Meine Empfehlung muß also lauten: Werfen sie Ihre Erstausgabe von 1955 nicht weg, sondern stellen Sie beide artig nebeneinander ins Regal, auf daß sie sich ergänzen.
 
„Der ewige Brunnen – Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten“
Herausgegeben von Dirk von Petersdorff
© 2023 Verlag C.H. Beck, 1167 Seiten, Ganzleinen, ein Lesebändchen -  ISBN: 978-3-406-67642-0
28,- €
 
Weitere Informationen:  www.chbeck.de