Besuch der alten Dame

Wislawa Szymborska zum 100. Geburtstag

von Michael Zeller

Wislawa Szymborska 2011 - Quelle: Wikimedia Commons
Besuch der alten Dame
 
Heute vor hundert Jahren, am 2. Juli 1923, ist die polnische Lyrikerin Wislawa Szymborska geboren. 1996 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.  Als sie nach der Preisverleihung in Stockholm im März 1997 von ihren Kollegen in Krakau empfangen und gefeiert wurde, war der deutsche Schriftsteller Michael Zeller dabei, der damals für ein Jahr in Krakau lebte. In seinen „Krakauer Geschichten“, 2000 unter dem Titel „Noch ein Glas mit Pan Tadeus“ erschienen, hat er diesen Augenblick festgehalten.
 
Ach ja, da kommt sie ja, die Große Alte Dame der polnischen Literatur, in das Haus des Krakauer Schriftstellerverbandes, in der ulica Kanonicza, aus den Tagen der Renaissance. Kommt die Treppe hoch, hält an auf der Schwelle, schaut um sich, zieht die Brauen hoch, legt drei Finger auf die Lippen - ein kleiner Schreck:
Du lieber Himmel, was ist denn hier los ……
Genau so, wie man sie von den letzten Fotos kennt: eine alte Dame, zierlich und klein. Das ausdrucksstarke Köpfchen mit diesem breiten Lächeln. Stumpfgrau das Haar, so gut wie unfrisiert. Den Teint etwas aufgebräunt, die Lippen mit Rouge belegt. Keine Brille. Gibt sich einen Ruck. Über die Schwelle. Lächelt, schüchtern, aber auch froh. So viele Menschen, so viele liebe Menschen, und alle nur für sie gekommen. Dann steht sie mitten unter ihnen, die kleine alte Dame unter den vielen anderen Alten – eine der ihren, in kniehohen schwarzen Stiefeln – es ist noch einmal kalt geworden im März des Jahres 1997.
Lächelt, nickt in die Runde, das wirkt ganz natürlich, ohne jede Allüre. Ein paar klatschen ihr zu. Sie wühlt in ihrer Plastiktüte herum, bis zwei Flaschen zu sehen sind, neutral verpackt. Man kann raten. Französischer Cognac? Oder Champagner?
Sie trägt, wie bei der Preisverleihung in Stockholm, wieder schwarz, ein Kostüm, klassisch geschnitten, die Klasse liegt in seiner Unauffälligkeit. Jetzt macht sie die Runde, gibt jedem die Hand, bedankt sich, daß er und sie für sie gekommen sei. Auch mir. Ohne jede Hemmung küsse ich, nach Landessitte, die kleine, leichte Hand, die diese Gedichte geschrieben hat. Ich liebe sie sehr – Verse aus der Unabhängigkeit des Denkens, in die Freiheit des Humors hineingesprochen.
Eine vollkommen ungezwungene Stimmung unter den Menschen hier im Raum, kein bewunderndes Kopfnicken, kein „Pst!“ um Ruhe, wenn sie etwas sagt. Wirklich, das Treffen hat etwas Familiäres. Nicht einen Augenblick lang fühle ich mich unwohl dort. Die Menschen, die am Tisch der alten Dame Platz genommen haben und ein Wort mit ihr wechseln, lösen einander ab, es ist ein Kommen und Gehen. Alles ist mittendrin beim üblichen Schwatzen – kleine Gruppen in beiden Räumen, Wandernde dazwischen. Einigen merkt man den Wodka schon an, die Augen glühen, die Wangen. Als ich gehe, nach zwei Stunden, tragen Kellner Immer noch Tabletts herum, vor allem mit Torte, Kaffee und Tee.
„Aber vergessen Sie eines nicht“, erklärt mir Jan G., der Schauspieler, ein paar Tage danach, als ich ihm von meinen Eindrücken berichte. „Es gab viele in Polen, denen dieser Preis in den falschen Hals geraten ist. Denn Szymborska ist Agnostikerin, sie hat sich nie und von niemandem etwas einflüstern lassen, von keiner Partei und auch von der Kirche nicht. Ein eigener Kopf - oh, das weckt Abneigung bei vielen hier in Polen …“
„Nicht nur in Polen“, ergänze ich. „Selbst auf den Schultern eines Schriftstellers ist ein wirklich freier Kopf immer eine Seltenheit. Kommen Sie ruhig mal nach Deutschland…“
 
© Michael Zeller