Ein Bann liegt überm Bannwaldsee
Fast vergessen von der Welt und unzureichend gewürdigt
von ihrer Heimat: Ilse Schneider-Lengyel,
der einst der Bannwaldsee im Ostallgäu gehörte
und die Mitbegründerin der Gruppe 47 ist.
(* 10. Januar 1903 in München; † 3. Dezember 1972 in Reichenau)
„Wir haben so gehungert! Wir werden niemals vergessen!
Wir haben von Rüben und Verachtung gelebt.“
Wolkenberge in allen Schattierungen wetteifern mit dem Anthrazit der Berge ums eleganteste Grau. Der Bannwaldsee kräuselt sich, sogar ein paar kleine Schaumkronen proben den Aufstand gegen immer gleiche blaue Sommertage. Die Camper, die sonst baden würden, sitzen vor ihren Blechburgen, Fleece statt Schiesser-Feinripp. Eine munter zechende Gruppe junger Schweden läßt die Bierflaschen aneinanderklirren, eine Flasche fliegt hinüber in den Garten des Hauses mit den roten Läden. Ein Hund zieht Herrchen zum Zaun eben dieses Hauses, hebt das Bein, was den Mann zum Anhalten zwingt. Ob er wisse, wem dieses Haus gehört hat? Er schaut verständnislos. Da ist eine Gedenktafel, deren Lettern man je nach Lichteinfall in der Tat schlecht bis gar nicht lesen kann. Am prägnantesten noch die große 47, die aufs Gründungsdatum der Gruppe 47 verweist. „Was für ne Gruppe?“ Er lacht. Was würde Ilse Schneider Lengyel antworten, umzingelt von Blechbüchsen, Aug in Aug mit Angeboten von Outdooranbietern, die Segway Touren oder Mermaiding anpreisen? Als ihr 1958 die Camper immer näher rückten, schrieb sie. „Immer weiter entfernt sich alles Geistige… Menschen, die nichts mit irgendetwas Künstlerischem zu tun haben.“ Es ist wohl eher schlimmer geworden, meinen Heike Drummer und Alfons Maria Arns. Die beiden Frankfurter Historiker reisen seit 25 Jahren ins Allgäu, als Privatleute, aber dann hat sie eben auch Ilse Schneider Lengyel gepackt.
1997 bekam der Kulturamtsleiter von Füssen, Thomas Riedmille, den Auftrag, eine der eine Ausstellung und einen Katalog zu Ilse Schneider Lengyel auf die Beine zu stellen. Er war als erster in der Münchner Staatsbibliothek und hat einen Teilnachlass von ISL entdeckt. Die beiden Historiker wurden auch auf das Thema aufmerksam. Sie waren es, die dann 2017 zum 70. Jubiläum der Gruppe 47 einen Auftrag von der Gemeinde Schwangau für ein umfangreiches Projekt bekamen. Sie hatten Blut geleckt, haben weiter gegraben und recherchiert und unter anderem herausgefunden, daß Ilse während des 1. Weltkriegs an der "Städtischen Maria Theresia-Schule (heute: Maria-Theresia-Gymnasium) war, einer "Höheren Mädchenschule mit Realabteilung und Frauenschule" in Augsburg gewesen war. Aber es ist immer ein nur ein kurzes Aufflackern von Interesse in der Region, dabei könnte Schwangau doch wuchern mit Ilse, die neben den Königsschlössern doch Renommée wäre? Aber Schwangau hält sich merkwürdig zurück, Drummer und Arns waren völlig verblüfft, als man eine Hinweistafel am Radweg auf die Gruppe 47 verschwinden ließ. Weil man keine Kulturpilger am Campingplatz will? Und wären es so viele geworden?
Ilse Maria Schneider wurde 1903 als Protestantin im katholischen München geboren, hinein in eine begüterte Familie, die Ländereien am Chiemsee besaß, später auch im Allgäu den Hopfensee, den Weissensee und den Bannwaldsee. Die Weltwirtschaftskrise beutelte die großbürgerliche Familie, nur der Bannwaldsee verblieb in ihrem Besitz. Ilse schrieb erst 1940 über ihre Kindheit, sie fand mit zwei Jahren Erwachsene „idiotisch“, las sich mit 5 durchs Konversationslexikon und sah den Krieg kommen. „Mein Vater ging dort hin und es war keine Rede, daß ich ihn davon abhalten konnte. Man sprach von Vaterland, König und Kaiser, aber es war nichts Greifbares darin.“ Sie kam ins Internat in Augsburg, alles, was man über Ilse Schnieder weiß, ist Fragmenten im Nachlass zu verdanken und der detektivischen Arbeit von Drummer und Arns. Alles, was man über Ilse Schneider heute weiß, sind Bruchstücke, es sind Strahlen, die kurz durch die Wolken blitzen, die ein ziemliches Spektrum an Interessen beleuchten. Kunstgeschichte in München, in Paris bei Paul Valery an der Kunstakademie, in einem Zeitalter, das „golden“ erschien, Luftschnappen zwischen Wirtschaftskrisen und zwei Weltkriegen. Das Maler bezauberte sie, „was ich dann später aufgab. Der eigene Mann malt, da sollte man nicht.“ Und dieser eine Satz nimmt einen Großteil ihrer Tragik vorweg: Sie hat das klassische Frauenbild aufgebrochen und wollte doch eine Beziehung auf Augenhöhe. Etwas woran Frauen leichter Dings auch 2023 noch scheitern!
Auf Paris folgte Berlin, ein vibrierende Stadt, wo Ilse Ethnologie studierte, aber die Ethnologie war ihr zu statisch: „Jahrzehnte gähnte dieses Museum verlegen umher, unordentlich verschlafene Abstellkammer, verstorbene Kulturen sanken in verwirrte Schränke.“ Sie lernte auch in der Photografischen Lehranstalt des Lette Vereins. Der Lette Verein stand anfangs nur Frauen offen, das Fotografische sollte zu Berufen als Röntgen- oder Laborassistentin führen, das Handwerkliche sog Ilse auf, aber sie wollte nicht Laborratte werden! In Berlin lernte sie den späteren Mann, eben jenen Ungarn Laszlo Lengyel kennen, sieben Jahre älter, aus einen großbürgerlichen jüdischen Familie in Szeged stammend, die eine Möbelmanufaktur besaß. Es war mehr der Bruder Kalman, der wohl Kontakt mit Marcel Breuer aufnahm, der am Bauhaus Entwürfe schuf und dessen Name nie die Strahlkraft eines Breuers hatte. Aber die Lengyel Brüder und auch Ilse Schneider arbeiteten, philosophierten, haderten im Bauhaus. 1933 eröffnet Ilse ein Studio für Gebrauchsgrafik, noch bevor sie den Ungarn heiratete. Sie lernte bei Münchner Altertumsverein 1934 den Kronprinzen kennen, beide voneinander fasziniert, Ilse womöglich, weil er das „Bayerische“ ihrer Kindheit verkörperte.
Anfang 1934 erschien beim Münchner Piper Verlag „Die Welt der Maske“, ein Buch mit Ilses Fotografien von Masken aus unterschiedlichen Kulturen und Zeiten, sogar mehrsprachig angelegt. Was sah der junge Verleger Reinhard Piper in der 31-jährge Debütantin? Die Nationalsozialisten waren schon am Ruder, es hatte schon 1933 eine Durchsuchung der Verlagsräume gegeben. Ein Buch über Naturvölker, also das Primitive im Gegensatz zum deutschen Herrenmenschen, zu dem Zeitpunkt zu publizieren, war kühn! Und das Buch war für lange Zeit auch das letzte seiner Art. „Es war einzigartig, Kunst über Kunst“, sagt Alfons Maria Arns. Die Fotos sind oft scharf beschnitten, stehen mal schräg, Masken, die einen ansehen und ins Innerste dringen. Es folgte ein scharfer Verriss des Völkischen Beobachters, das muß man aushalten können, mehr noch, wenn die eigenen Ikonen und Ideale zerschmettert waren. Die Lengyels emigrierten 1934 nach Ungarn, dann weiter nach Frankreich zusammen mit Laszlos Bruder Kalman.
Paris war offen und rege - Ilse Schneider-Lengyel bekam Buchaufträge, fotografierte die Gesichter von Statuen der gotischen Kathedralen, wieder ein Meilenstein fotografischer Umsetzung. Materiell war es wohl Ilse, die den Gatten mitfinanzierte. Sie war auf Fotoreisen, oft auch in Italien, ihre Fotos hatten auch immer mit circensischer Artistik zu tun. Sie seilte sich ab, schwankte auf höchsten Leitern. Nach Italien war auch der Kronprinz emigriert. Er legte ihr die Museen zu Füßen. „Wir führten unsere Kassen getrennt. Ich war immer in Todesangst mit den schrecklich teuren Hotels; manchmal quartieret ich mich anderswo in ein ganz billiges Ding. Entging auf diese Weise falschen Persern, furchtbar geschnörkelten Möbeln aus dem 19. Jahrhundert und pfiffigen Hotelboys.“ Auch über diese Seelenverwandtschaft weiß man wenig…. und dann marschierten die deutschen Truppen 1940 in Paris ein. Wieder ein Ende. Wieder ruinierten die Nationalsozialisten Ilses Karriere, Aufträge vom Phaidon Verlag gab es keine mehr!
Sie lebte mit der Bedrohung, große Teile der Verwandtschaft in Ungarn waren in Konzentrationslager deportiert worden. 1950 schrieb sie ans Bayerische Entschädigungsamt, daß sie sich von den 12 Jahren der Verfolgung nie erholt hätte. Sie schien aber in diesen Kriegsjahren zwischen Paris und dem Bannwaldsee hin und her pendeln zu können, war die Sommer am See, die Eltern waren über 70 Jahre alt, kränklich, starben dann 1946 und 1948. Daß sie Fotos in der Frontzeitung „Luftflotte West“ platziert hatte, das irritiert. Wollte sie damit den jüdischen Mann schützen? War das ihre Art den Nationalsozialisten ein Zuckerl hinzuwerfen? In der ganzen Zeit der Widersprüche und Pervertierung ihrer freigeistigen Ideale, beginnt sie Lyrik zu schreiben, sie schreibt zu Beginn unter männlichem Pseudonym, sie ist politisch. „Für uns erscheint die Welt müsst sich aus ihrer Achse heben, mit lautem Knall die grauenvollen Täter jetzt zermalmen.“
Als am 25. August 1944 Paris durch den Einmarsch der Alliierten befreit wurde, war Ilse wohl am Bannwaldsee und viele der „grauenvollen Täter“ kamen davon. In Paris trat Sartre auf den Plan, die Malergruppe „Salon de Realites Nouvelles“ stellte aus, darunter auch Laszlo Lengyel und es scheint so, daß sich der Maler damals begann abzulösen, auch wenn die offizielle Scheidung erst 1953 vollzogen wurde.
Ilse Schneider Lengyel mußte sich wieder einmal neu erfinden, begann 1947 für die „Süddeutsche Zeitung“ zu schreiben, für die Kunstzeitschrift „Prisma“, und für „Der Ruf“, ein Projekt von Alfred Andersch und Hans Werner Richter. Richter bietet ihr eine längerfristige Mitarbeit an, damals meinte er noch gönnerhaft, sie sei eine Dichterin. Und wieder erwischte die Weltpolitik ihre Kariere eiskalt: Der Amerikanischen Kontrollbehörde waren die Artikel „Ruf“ zu nihilistisch. Aber Richter plante schon Neues, den „Skorpion“ und Ilse schlug vor sich doch zum Gedankenaustausch am Bannwaldsee zu treffen. Es wurden der 6. und 7. September 1947! Es war eine beschwerliche Reise für die Autoren und Publizisten, die teils zu Fuß oder auf Ochsenkarren heranschaukelten. Freia von Wühlisch, promovierte Zeitungswissenschaftlerin, war neben Ilse die zweite Frau im Bunde, sie führte Tagebuch: Es waren die beiden Frauen, die Kaffee kochten. Es war von Wühlisch, die die Lebensmittelmarken einsammelte. Es war Ilse, die fischte für die Gäste. Sie versuchte im Mangel noch eine gute Gastgeberin zu sein und eine Schmalhans-Tafel ins Festliche zu verkehren. Am Abend gab es Lesungen, erst am zweiten Tag wurde aus der Gastgeberin auch eine Vortagende. „Unverständlich, zu französisch, zu surrealistisch waren die Kommentare der Männerwelt“, hat Arns recherchiert. „Das war nicht gefragt, man wollte die Männer mit ihren Heimkehrergeschichten.“ Daß die Gruppe 47 sich gründete, Impulsgeber der Nachkriegsliteratur, war mehr ein Zufallsprodukt und Ilse Schneider Lengyel wurde nur als Gastgeberin erwähnt?
Drummer und Arns und waren in den Archiven des ZDF, sie fanden eine bizarres Zeitdokument, eine der ersten Ausgaben von „Aspekte“. „Man filmte am Steg am See. Richter kommt zu Wort. Ilse darf nur sagen, welche Fische sie gefangen hat. Krebse und Zander. Sie verstummt regelrecht, sie wurde herausgeschnitten. Extrem geringschätzig und auch beklemmend“, findet Arns. Hatte sie den Männern Angst gemacht?
„Bestimmt!“, sagte Cilly Kahle, Jahrgang 1928, verstorben 2023, die in den Jahren 1947-1952 Helfern in der Zahnarztpraxis von Emil Schneider in Füssen arbeitete. „Sie war eine Legende, sie war die Hex vom Bannwaldsee. Ich habe sie bewundert, sie war ungewöhnlich, ihre Aufmachung war mal fast indianisch, dann wieder mit der Lederjacke. Sie war aber sehr freundlich, nie arrogant. Ein, zweimal, wenn sie allein im Wartezimmer war, hat die Glühbirne gefehlt. Ja mei, es gab ja nichts. Für diese Männer der Gruppe 47 hat sie Kartoffeln zusammengebettelt, die Männer sind groß rausgekommen, sie hat man im Stich gelassen.“
Wie sehr wird bei weiteren Treffen der Gruppe 47 klar. Sie las auch 1949 und 1950 Gedichte vor, die Kritik blieb ablehnend. Sie wollte irgendwo dazugehören, eine Heimat finden! „Sie suchte den Austausch, wollte sich durchaus beurteilen lassen“, meint Arns. Die Männer wollten das nicht, sie versagten ihr die Teilnahme, was sie trifft: „Wir flehen, gepeitscht, um ein wenig Liebe“.
Sie versuchte sich wieder an ethnologischen Bildern in Verbindung mit Lyrik, sie wollte Kultgesänge verschriftlichen, sie findet im Hanser Verlag bei Herbert G. Göpfert einmal mehr einen Mann, der sie fördern will und dann doch zurückzieht. Sie will wieder reisen, Bela Horowitz vom Phaidon Verlag stellt in Aussicht gutes Honorar für eine Ostasien-Reise zu bezahlen – er stirbt überraschend 1955 und damit stirbt auch die Zusammenarbeit. Warum hing ihr Schicksal immer wieder am Wohlwollen einzelner Männer? Sie sucht den Kontakt zu Arno Schmidt, sie schreibt ihm wortreich, er antwortet knapp und höflich, sie schafft es geradeso noch Würde zu bewahren und nicht zu anbiedernd zu sein.
1958 hatte sie diesen ungeliebten Campingplatz eröffnet, um Geld zu verdienen. Sie hatte ihn noch selber verwaltet, dann aber an einen Gastwirt in Schwangau verpachtet. Sie fleht 1958 nochmal das Bayerische Entschädigungsamt an, vergeblich, muß verkaufen, hinter vorgehaltener Hand vermuten die letzten Zeitzeuge, daß ihre Notlage ausgenutzt wurde. Vieles bleibt hinter vorgehaltener Hand, vieles vage, auch Drummer und Arns erleben das: „Wir haben Termine mit Zeitzeugen gemacht, die im letzten Moment abgesagt wurden. Wir haben am ehesten Diebstahl Geschichten gehört, wie die der Glühbirnen und auch mal, sie hätte Männer verführt. Aber sind das nicht die Männerphantasien der Jahrhundertwende und auch jene, die ihr scheinbar gewogen waren, nennen sie Melusine oder Ophelia?“
Es gibt ein paar Versuche zu einem literarischen Comeback, 1967 auch der Versuch zwei Manuskripte ihres ebenfalls 1967 verstorben Exmannes unterzubringen: Trauerarbeit? „Ich verlasse mein Seegut Bannwaldsee zum Beginn des Jahres 1969“ schreibt sie zum Jahreswechsel an ein Juristenehepaar in München, sie würde sich auf die „Groß-Stadt“ München freuen. Sie wurde aber Anfang 1969 am Bodensee aufgegriffen und verwirrt in die Psychiatrie eingewiesen. Am 3. Dezember 1972 starb sie, es wurde nie ein Grab gefunden! „Die Akte der Psychiatrie ist verschwunden, die Polizeiakte fehlt, es ist wie ein Bann überm Bannwaldsee“, sagt Arns. Auch Peter Braun, Literaturprofessor in Jena, fand diese Akte nicht. Sein Buch über Ilse Schneider Lengyel ist eine Art Standardwerk, ihren rätselhaften Tod konnte auch er nicht aufklären. Arns war gerade wieder im Allgäu, will dran bleiben, will kämpften um ein Museum in ihrem Haus, das wäre dann aber am Campingplatz, wo der Mann mit dem Hund zurück ist. „Ich habe jetzt mal gegooglet. Gruppe 47, Schreiberlinge, die keiner kennt, waren das.“ Und sein Hund erhebt erneut das Bein gegen das Haus von Ilse…
Nicola Förg
Nicola Förg, Spiegel Bestseller Autorin, lebt gar nicht weit weg vom Bannwaldsee und ist berührt von der Vita von Ilse Schneider-Lengyel. Gerade auch, weil aktuell Frauenfeindlichkeit im Kulturbetrieb breit diskutiert wird und auch Ilse Scheider-Lengyel ein Lehrstück ist, wie Männer im Kulturbetrieb Frauen maximal gönnerhaft behandeln, und Angst bekommen, wenn es um Konkurrenz geht. Damals wie heute!
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