Der kleine Junge und der Clown
Der kleine Junge ging am Vormittag zum Zirkus. Das Kartenhäuschen war geschlossen, aber der Eingang stand offen. Vorstellungen fanden nur am Abend statt.
So gelangte der kleine Junge auf das Gelände, wo das große Zirkuszelt stand und Wohnwagen und anderes aufgestellt waren.
Um diese Zeit war alles ruhig. Ab und zu knurrte eine Raubkatze in dem verschlossenen Käfig. Ein Stallknecht führte zwei Pferde zu einem Rasenstück.
Auf der Treppe zu einem Wohnwagen saß ein Mann und rauchte.
„Guten Morgen“, sagte der kleine Junge.
„Guten Morgen“, sagte der Mann und nahm die Zigarette aus dem Mund. Er hatte ein faltiges Gesicht und schwermütige Augen.
Der kleine Junge setzte sich etwas tiefer auf die Treppe zum Wohnwagen.
Er betrachtete den Mann aufmerksam und sagte: „Du siehst traurig aus.“
„Vielleicht bin ich traurig“, versetzte der Mann.
„Aber warum?“, fragte der kleine Junge.
„Ach“, seufzte der Mann, „das sind so Geschichten.“
„Geschichten?“ fragte der kleine Junge.
„Unser Baby ist gestorben. Und dann hat mich meine Frau verlassen“, sagte der Mann und senkte den Kopf.
„Warum?“ fragte der kleine Junge.
„Ach, weißt du“, sagte der Mann, „das Leben im Zirkus ist anstrengend. Man ist unterwegs, zieht von einem Ort zum anderen.“
„Aber das Leben im Zirkus ist doch auch schön“, rief der kleine Junge „die vielen Vorstellungen mit Musik, mit Löwen und Elefanten.“
„Gewiß“, nickte der Mann, „aber alles will eingeübt sein. Ganz schön anstrengend!“
„Was machst du?“ fragte der kleine Junge, „ist das anstrengend?“
„O ja“, sagte der Mann, „ich bin der Clown Loulou. Das Kostümieren geht ja noch, aber die Vorbereitung auf das, was man sagt und tut, das ist schwer!“
„Ein Clown“, rief der kleine Junge und klatschte in die Hände, „also das ist doch das Allerschönste im Zirkus.“
Der Mann lächelte zum ersten Mal.
„Das gibt immer Spaß für die Kinder“, sagte der kleine Junge.
„Ja“, sagte der Mann, „Kinder lachen gern.“
„Und wie bringst du sie zum Lachen?“ fragte der kleine Junge.
„Zum Beispiel setze ich mich neben den Stuhl oder ich falle mit dem Stuhl um“, sagte der Mann, „man lacht so gern über die Ungeschicklichkeit anderer.“
„Und was sagst du?“ fragte der kleine Junge.
„Wenig“, antwortete der Mann, „meistens ziehe ich nur eine Grimasse und blicke dumm drein. Aber: ich habe z.B. eine ganz kleine Geige. Ich fiedele ein wenig, hebe sie hoch und sage: Ist sie nicht schön!
Die Kinder lachen und rufen: Aber so klein! Dann sage ich: Aber sie wird noch wachsen! Die Kinder lachen und rufen: Geigen wachsen doch nicht, du Dummkopf!“
Der kleine Junge lachte auch. Dann sagte er: „Wie kannst du traurig sein, wenn so viele Kinder lachen! Ich kenne keinen Menschen, bei dem so viele Kinder lachen und dem sie zuklatschen.“
Dann ging er fort, und der Mann hatte plötzlich ein fröhliches Gesicht.
© 2023 Joachim Klinger
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