Die Wildheit des häuslichen Lebens
„Die Wildheit des häuslichen Lebens“. So heißt ein Band mit Essays des britischen Erzählers Gilbert K. Chesterton (erschienen im Berliner Berenberg Verlag), den Leserinnen und Leser als Autor von Pater-Brown-Geschichten kennen (wobei viele vielleicht dabei an Heinz Rühmann denken, der diesen Pater in den entsprechenden Filmen so fabelhaft gespielt hat.)
Der Titel des erwähnten Bandes weist auf ein zentrales Merkmal im Denken des 1936 gestorbenen Chesterton hin, und damit sind Paradoxien gemeint. Tatsächlich vertritt er in einem seiner Essays die Ansicht, „das wahre Ergebnis aller Erfahrung und die wahre Grundlage aller Religion zu kennen“. Sie lautet, „daß die vier oder fünf Dinge, die ein Mensch aus praktischer Notwendigkeit unbedingt wissen muß, allesamt das sind, was die Leute paradox nennen.“ Konkret fügt Chesterton „die unwiderlegbare Banalität“ an, „daß der Mensch, der am Leben das meiste Vergnügen findet, häufig der ist, der am wenigsten danach sucht.“
Darüber wollen wir hier nicht weiter nachsinnen, uns dafür aber dem nächsten Paradox zuwenden, das Chesterton anführt. Es lautet so: ,Je mehr man etwas anschaut, desto weniger kann man es erkennen, und je mehr jemand etwas erlernt, desto weniger weiß er davon.“
Wunderbare Thesen, über die sich trefflich streiten läßt, wobei ich vermute, daß Chesterton sie vor allem deshalb so prägnant formuliert, damit wir dies tun. Wenn man seine gerade zitierten Paradoxien auf die Wissenschaft anwendet, dann drückt die Behauptung aus, daß derjenige, der sie erlernt hat, nicht viel von ihr weiß. Wer sie in immer spezielleren Details als disziplinierter und disziplinärer Forscher praktiziert, wird immer weniger wissen, an welcher Stelle des Gesamtbildes sein Mosaiksteinchen Platz findet. Darüber weiß besser Bescheid, wer sich in ihren Einzelheiten nicht verliert und die Informationen darüber sogar verweigert.
Zu viele Daten und Auskünfte lassen deren Bedeutung verschwinden. Natürlich braucht es Experten, wenn Genome sequenziert und Bibliotheken katalogisiert werden. Aber - so Chesterton am Beispiel der Justiz - „wenn es um etwas wirklich Ernstes geht, versammelt man zwölf gewöhnliche Männer, die gerade herumstehen. Dasselbe tat der Begründer des Christentums“. Davon läßt sich lernen, wobei heute auch Frauen willkommen sind.
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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