Der kleine Junge und die alte Frau

von Joachim Klinger

© Joachim Klinger
Der kleine Junge und die alte Frau
 
Der kleine Junge kam zu der alten Frau. Sie saß in ihrem Lehnstuhl am Fenster und strich mit ihren knochigen Händen die Schürze glatt.
„Guten Tag“, sagte der kleine Junge. Aber die alte Frau antwortete nicht und blickte aus dem Fenster.
Der kleine Junge setzte sich auf eine Bank an der Tür und schwieg.
Nach einer Weile sagte er: „Du siehst so ernst aus.“
Die alte Frau blickte ihn flüchtig an, sagte aber nichts.
 
„Ist es wegen des weißen Hühnchens, das nicht fressen mochte?“ fragte der kleine Junge, „machst du dir deswegen Sorgen?“
„Ach“, sagte die alte Frau, „es läuft ganz munter herum und pickt die Körner auf. Das war wohl nur eine Magenverstimmung.“
„Und weswegen dann?“ fragte der kleine Junge.
Die alte Frau sah ihn lange an und sagte schließlich: „Ich muß bald sterben. Noch in diesem Sommer, sagen die Ärzte.“
„Oh“, sagte der kleine Junge.
Sie schwiegen beide.
 
Dann sagte der kleine Junge: „Im Sommer sterben ist sicherlich besser als im Herbst oder Winter. Meine Großmutter Alma ist auch im Sommer gestorben. Sie hat sich noch an den Blumen gefreut.“
Sie schwiegen wieder.
Auf einmal hob der kleine Junge seinen Kopf und sagte: „Großmutter Alma hat gesagt: sie freut sich auf den Himmel. Dann hat sie die Hände gefaltet und gebetet.“
„Ja“, sagte die alte Frau, „ich habe deine Großmutter Alma gut gekannt. Sie war eine fromme Frau.“
„Betest du auch?“ fragte der kleine Junge.
„Hin und wieder schon“, sagte die alte Frau, „aber ich weiß nicht, ob ich richtig bete. Ich suche nach Worten.“
 
 „Mein Großvater sagt: Gott hört jedes Gebet“, rief der kleine Junge, „man kann gar nicht falsch beten.“
Die alte Frau sah nachdenklich vor sich hin.
Der kleine Junge fuhr fort: „Ich bete immer ganz kurz vor dem Schlafengehen. Mutter meint: das genügt.“
„Daran will ich denken“, sagte die alte Frau.
„Und mach dir keine Sorgen wegen deiner Hühner!“ sagte der kleine Junge. „Ich weiß, wo das Körnerfutter steht und will sie gern füttern, wenn du nicht mehr kannst.“
„Danke“, nickte die alte Frau. „Kommst du mich wieder besuchen?“ fragte sie den kleinen Jungen.
„Gern“, sagte der kleine Junge, „ich komme schon morgen wieder.“
 
Damit sprang er auf und ging hinaus in den hellen Sommertag.
 

© 2023 Joachim Klinger