Weil es notwendig ist

von Lothar Leuschen​

Foto © Anna Schwartz
Weil es notwendig ist
 
Von Lothar Leuschen
 
Im November jährt sich zum 25. Mal der Tag, an dem an der Gemarker Straße in Barmen der erste Spatenstich zum Bau der Bergischen Synagoge erfolgt ist. Vier Jahre später waren der damalige Bundespräsident Johannes Rau und der israelische Staatspräsident Mosche Katzav anwesend, als die Synagoge eingeweiht wurde. Das ist nun gut 20 Jahre her, und das architektonisch äußerst anspruchsvolle Gebäude gehört längst zum Stadtbild von Barmen – wie die Polizisten, die davor Wache halten.

Denn so selbstverständlich die Bergische Synagoge auch geworden ist, so umstritten ist jüdisches Leben in Wuppertal immer noch. Es wird angefeindet und bedroht. Der Brandanschlag im Jahr 2014 legte darüber ein erschreckendes Zeugnis ab. Das Judentum wird auch in Wuppertal regelmäßig zum Spielball des Nahost-Konfliktes und verantwortlich gemacht für die Politik der israelischen Staatsregierung. Jüdisches Leben in Deutschland ist sicher vieles, nur normal ist es nicht, und vermutlich ist es für viele Juden auch nicht einfach. Selbst erlebte und ererbte Wunden werden aufgerissen, wenn zum Israeltag an vielen Rathäusern der Republik die Fahnen mit dem Davidstern gehißt werden, nur in Wuppertal nicht. Die Sorgen der jüdischen Kultusgemeinde wachsen, wenn ihre wenigen öffentlichen Veranstaltungen von immer mehr Polizei beschützt werden müssen.

Der Prozeß der Reintegration der Juden in die Bundesrepublik Deutschland ist auch fast 80 Jahre nach dem Ende des Naziterrors nicht abgeschlossen. Aus diesem Grund bemüht sich beispielsweise die Solidargemeinschaft Wuppertal seit einigen Jahren mit einem Kippa-Tag darum, dem Judentum in Wuppertal Öffentlichkeit zu verschaffen. Das Chanukka-Fest lädt inzwischen regelmäßig dazu ein, sich mit dem jüdischen Glauben zu befassen. Es sind zaghafte Versuche der Kultusgemeinde, sich einen Weg zurück in die Mitte der Wuppertaler Gesellschaft zu bahnen.
 
90 Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, 90 Jahre nach Beginn des Terrors gegen die Juden, gegen Minderheiten, gegen Oppositionelle, fast 80 Jahre, nachdem das ganze Ausmaß der Entmenschlichung sichtbar geworden ist, scheint es notwendiger denn je zu sein, auf die Folgen von Haß, Intoleranz und Ausgrenzung hinzuweisen. Die Redaktion der Westdeutschen Zeitung macht das mit Hilfe von Menschen, die sich in und für Wuppertal um die sichtbare Repräsentanz der Juden in dieser Stadt bemüht haben. Sei es mit dem unermüdlichen Kampf um die neue Bergische Synagoge, sei es mit dem ebenso unerschütterlichen Bemühen um die Begegnungsstätte Alte Synagoge an der Genügsamkeitstraße, wo eigentlich ein noch größerer Parkplatz entstehen sollte, sei es durch den Freundeskreis, der seit Jahrzehnten die Bande zur Partnerstadt Beer Sheva nicht reißen läßt.

Die Hinwendung zum jüdischen Leben in dieser an gemeinsamer Geschichte so reichen Stadt ist keine Absage an muslimisches Leben in dieser Stadt. Sie ist vielmehr die Einladung dazu, das Verbindende zu suchen und das Trennende zu überwinden, auf dass hier möglich werden kann, was im Nahen Osten derzeit unmöglich erscheint.
2014 hat der Brandanschlag auf die Synagoge gezeigt, dass eine offene Gesellschaft bei all ihren Vorzügen zuweilen auch Unfrieden importiert. Fast zehn Jahre danach, 90 Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, in Zeiten, in denen eine rechtsextreme, fremdenfeindliche Partei in Deutschland wieder Zuspruch gewinnt, ist der richtige Zeitpunkt, an die Folgen von Haß und Spaltung zu erinnern. Es ist wieder bitter notwendig.
 
Der Kommentar erschienen am 29. Juli 2023 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.