Das Recht auf Privatheit
Wenn es auch in diesen digitalen Tagen seltsam klingt, aber das Beichtgeheimnis gehört zu den ältesten und bewährtesten Datenschutzvorschriften der Geschichte, selbst wenn die priesterliche Verschwiegenheit locker von der ärztlichen Schweigepflicht übertroffen wird, die Historiker zum ersten Mal einige hundert Jahre vor dem Auftreten von Jesus Christus festhalten können. Heute ist weniger von der Schweigepflicht und mehr vom Schweigegeld die Rede, wie sich überhaupt die Zeiten geändert haben, seit zum Ende des 19. Jahrhunderts - genauer im Iahre 1890 - zwei amerikanische Juristen mit Namen Samuel Warren und Louis Brandeis das Konzept entwickelt und vorgestellt haben, daß es für Menschen ein „Right to Privacy“ gibt, ein Recht auf Privatheit. Die beiden Anwälte aus Neuengland schätzten „the right to be alone“ als ein Grundrecht ein, und sie meinten damit den rechtsgültigen Anspruch von Menschen auf eine Sphäre, in der sie von der Gesellschaft unbehelligt bleiben und in Ruhe gelassen werden, um ein eigenes Leben ungestört und frei führen zu können. Als diese Idee am Ende des 19. Jahrhunderts aufkam, war die menschliche Privatsphäre erstmals bedroht, unter anderem durch die zunehmende Zahl der Zeitungen, die Fotografie und die aufkommende Werbung, wobei eingefügt werden kann, daß sich viele Menschen allein durch die Einführung von Postkarten schockiert zeigten. Schließlich gab es in Europa seit dem 17. Jahrhundert ein Postgeheimnis, und der Schriftverkehr sollte überall privat sein und nicht von Fremden gelesen werden können. Den gefeierten Ausdruck, „das Recht, allein zu sein“, haben Warren und Brandeis einer 1879 erschienenen Abhandlung über zivilrechtliche Delikte in den USA entnommen, und der in ihm enthaltene Gedanke schien ihnen angemessen und anwendbar, um Menschen vor den Auswirkungen der damals neuen Technologien zu bewahren, zu denen sich bald das Radio und das Fernsehen gesellen sollten. Wie würden die beiden Rechtsgelehrten aus dem 19. Jahrhundert reagieren, wenn man ihnen sagen könnte, daß heute das Gegenteil von dem der Fall ist, das sie schützen wollten? In den sozialen Netzwerken tauschen Milliarden aktive Nutzer alles aus, was früher als privat geheiligt wurde. Heute gilt, „Nowhere to hide anymore“, nirgendwo ist noch Platz, um sich vor den Banalitäten der anderen zu verstecken und für sich zu sein. Früher wurden Menschenrechte erkämpft. Heute geben wir sie einfach auf.
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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