Mittagessen mit Prigoschin

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Mittagessen mit Prigoschin

Von Michael Zeller
 
Zum Essen hatten wir bisher eigentlich nie Zeit gefunden. Und selbst wenn ich jemanden zu einer Tasse Kaffee in einem der vielen und angenehmen Kaffeehäuser hier in Lemberg einladen wollte, erfuhr ich in der Regel eine liebenswürdig formulierte Ablehnung. Doch jetzt,  zum Abschied, wollten wir einmal gemeinsam zu Mittag essen, richtig ukrainisch: die beiden Damen vom Literaturmuseum Charkiw und ich. Die Veranstaltung ANTITEXT gestern im ehemaligen KGB-Gefängnis Lontskogo über die systematische Bekämpfung der ukrainischen Literatur im Kommunismus seit den 1920er Jahren hatte bis in den Abend hinein gedauert, aber anschließend flog wieder alles auseinander und jeder nahm für sich irgendwo sein Abendbrot ein.
 
Aber heute! Wie gesagt: zum Abschied. Larissa und Ola (Namen geändert) schlagen mir ein Lokal im Armenischen Viertel vor, das eine rein ukrainische Küche anbiete. Der Gastraum im ersten Stock wirkt gedrungen unter der schweren dunklen Holzdecke. Die paar Tische sind ausschließlich mit Ukrainern besetzt.  Von den wenigen Touristen der Stadt scheint sich niemand hierher zu verirren. Die beiden Damen aus Charkiw bestellen einen Fruchtsaft, in einer Karaffe, ich nehme ein Bier, natürlich in Lwiw gebraut. Larissa und Ola haben als Vorspeise einen griechischen Salat gewählt, ich bin gespannt auf den hiesigen Borschtsch. Der ukrainische Borschtsch schmecke selbstverständlich viel besser als der polnische oder gar der russische. Das mag ja sein. Für mich aber dominiert der Geschmack der Roten Bete. Die weißen Streifen puren Specks als Beilage lasse ich am Rand unbenutzt liegen.
 
Beim Essen reden wir noch einmal über meinen Diskussionsbeitrag bei der Ausstellung ANTITEXT und die Entgegnungen des Publikums. Ola ist abgelenkt. Neben ihrem Teller liegt ihr kleiner Handrechner, und sie nimmt immer weniger teil an unserem Gespräch, selbst ihr Essen läßt sie nach wenigen Gabeln stehen. Sie ist blaß geworden und spricht mit Larissa, schnell, heftig, leise. Ich verstehe kein Wort. Ihrer Mimik nach muß eine wichtige Nachricht unterwegs sein. Jetzt möchte auch ich wissen, worum es geht. Doch da bringt die Kellnerin das Hauptgericht an den Tisch, dreimal, eine ukrainische Spezialität: einen Fladen aus Kartoffeln und Eiern. In seiner Mitte thront ein Häufchen aus Fleisch, gebettet in Weichkäse. Rußland! Moskau werde angegriffen! Prigoschin sei mit seinen Wagner-Leuten auf dem Weg in die Hauptstadt. Das schlägt ein! Bevor ich einen Bissen von dem Fladen kosten kann, bleibt mir die Spucke weg. Was soll denn das bedeuten? Olas Gesicht fahl und angestrengt, Entsetzen ist ihm eingeschrieben. Larissa wirkt dagegen unberührt. Mit ruhiger Hand schiebt sie sich eine Gabel des Gerichts in den Mund, während Ola das Essen ganz eingestellt hat und nur noch die Botschaften von dem Gerät abliest. Putin habe bereits die Stadt verlassen, auch Oligarchen, hohe Militärs, Bankiers. Dennoch läßt mein Appetit sich noch nicht ganz stillstellen. Das Essen schmeckt mir, und ich habe Hunger. In Rostow am Don, höre ich, habe Prigoschin den Marsch der Gerechtigkeit, wie er seine Meuterei nenne, unterbrochen und verhandele gerade mit einem Abgesandten des Kreml. Ola gönnt sich jetzt doch wieder mal einen Happen, eher um ihre Nervosität zu bannen. Kauend hängt sie weiter an dem  Gerät.
 
Was mich verwundert, das ist die Ruhe, mit der Larissa weiter ißt, sogar mit einem kleinen Lächeln um die Lippen. Sie ist eine bildschöne Frau, erinnert mich an die Claudia Cardinale, wie sie in „Spiel mir das Lied vom Tod” aussah. Diese Ruhe, dieses Lächeln. Schwer zu lesen.
 
„Rostow am Don”, sagt sie, „das ist nicht weit von unserer Grenze.  Unsere Truppen werden wissen, was sie dort zu machen haben.”
 
„Kannst du dir vorstellen, daß sie nach Rußland eindringen werden?”
 
„Wir wollen von Rußland nichts. Wir wollen nur unser Land wieder haben.”
 
Und dabei glänzt in den Augen dieser Frau eine Härte auf, daß es mir kalt über den Rücken läuft.
 
Doch fürs erste hat Prigoschin uns die Mahlzeit verdorben. Die drei Teller sind allenfalls zur Hälfte abgegessen, als wir sie von uns wegschieben.
 
So also sieht original ukrainische Kost aus in diesen Tagen.
 
 
Abgedruckt in: TAGESPOST (Würzburg) am 13.Juli 2023

Unveränderte Wiedergabe in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.