Lychakivske. Ein ukrainischer Friedhof

Für Victoria Amelina, gefallen am 1. Juli 2023

von Michel Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Lychakivske. Ein ukrainischer Friedhof
 
Von Michael Zeller
 
Für Victoria Amelina,
gefallen am 1. Juli 2023
 
 
Der Friedhof Lychakivske, auf einem Waldhügel am östlichen Stadtrand von Lemberg gelegen, ist einer der ältesten erhaltenen Friedhöfe Europas. Seit 1786 belegt, im violetten Wetterleuchten der Französischen Revolution, bis in die jüngste Gegenwart, vermitteln die Grabmäler mit ihren Inschriften ein – ja – lebendiges Abbild der wechselvollen Geschichte dieser bedeutenden Handelsstadt am Wegkreuz Ostmitteleuropas. Auf den Steinen und Kreuzen dürften mittlerweile die kyrillischen Lettern überwiegen, doch eine große Anzahl der Inschriften stammt noch aus der polnischen Epoche der Stadt, bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein. Und so manche Schrift erinnert sogar an die Tage Habsburgs (“Hier ruhen in Frieden …”).
 
Schaurige Prominenz hat dieser Friedhof nach dem Ersten Weltkrieg erlangt, als mit dem Ende der Habsburger Herrschaft über Galizien die Machtverteilung in der Region offen lag und ukrainische und polnische Jugendliche, zum Teil von der Schulbank weggeholt, aufeinandergehetzt wurden und zu Hunderten den Tod fanden. Wie Kriege eben so gehen, damals wie heute: Alte Männer haben schlimme Träume, junge Männer sterben.
 
Die beiden Ehrenfriedhöfe mit den soldatisch genormten Grabkreuzen für die polnischen und ukrainischen Gefallenen der Jahre 1918 bis 1920 grenzen Mauer an Mauer aneinander. Ein Betrachter, der heute seinen Blick über diese beiden gedrillten Todesäcker schweifen läßt, kann sich nur noch mit Mühe in die Konfliktlage seinerzeit hineindenken. Doch immer noch wabern in manchen Kreisen beider Nationen historische Mythen um diesen Krieg. Sowohl für die Ukrainer wie für die Polen ist Lychakivske bis heute ein Ort von hoher Bedeutung geblieben.
 
Seit den 1970er Jahren war das gewaltige Areal des Todes mit seinen dreihunderttausend Gräbern geschlossen. Doch der russische Angriffskrieg auf das Land, der seit dem 24.Februar 2022 aller Welt vor Augen steht, hat neue Bedürfnisse geschaffen. Der weite flache Wiesengrund jenseits der Friedhofsmauer ist nötig geworden für die Gefallenen dieses Krieges. Niemand geht davon aus, daß dieser Krieg gegen die selbsternannten Brüder und Schwestern aus dem Osten ein kurzer sein wird.
 
Bis jetzt, in den Sommertagen des Jahres 2023, sind hier bereits Hunderte von Gräbern angelegt worden, in Reih und Glied, einheitlich geschnitten. Über jedem Stein am Kopfende, mit Namen, Daten, Rang und einem großen Foto des Gefallenen, weht in Gelb und Blau das ukrainische Fahnentuch. Zusammen mit der Blumenpracht dieses üppigen Sommers ergeben die beiden Gegenfarben Gelb und Blau ein farbenfrohes Bild. Da fällt es beinahe schwer, an Tod zu denken. Jedes Grab ist bepflanzt, selbst wenn es neuesten Datums ist. Manches ist erst seit zwei, drei Tagen frisch belegt, die Gefallenen von der Front, meistens im Osten des Landes, hierher gebracht, eine lange Wegstrecke. Die Ukraine, zweitgrößtes Territorium Europas, ist riesig. Allein von Charkiw bis nach Lwiw sind es tausend Kilometer.
 
Hier, im äußersten Westen des Landes , sind noch keine Kämpfe ausgebrochen, obwohl jede Nacht die Sirenen über der Stadt zu hören sind, mal ferner, mal näher. Die Männer, die ihr Land verteidigen, müssen lange Strecken zur Front zurücklegen, im Leben wie im Tod.
 
Über dem neu angelegten Gräberfeld, das sich an der Friedhofsmauer von Lychakivske hochzieht und noch reichlich Platz bietet, herrscht ein enormer Auftrieb. Ein Netz aus Bewegung spannt sich über den ganzen Hang. Menschen jeden Alters, die meisten in Trauerschwarz, sind an einem Grab beschäftigt, auch zu mehreren, Ehefrauen, Eltern und Großeltern, Brüder, Schwestern. Kleine Kinder hüpfen dazwischen herum, als wäre das ein Spiel. Es gibt reichlich zu tun. Frisch mitgebrachte Blumen sind über das Grab zu drapieren, verblühte zu entfernen, Angepflanztes zu begießen, Vasen umzustecken.
 
Wie auf ukrainischen Friedhöfen üblich, stehen zwischen den Gräbern Sitzbänke. Zum Gespräch der Hinterbliebenen mit den Toten. Da sitzt eine alte Frau in schwarzem Kleid, mit weißem Haar. Still sitzt sie da, die leere Einkaufstasche am Knie. Eine Mutter wohl. Ernst in ihrem Gesicht, Gefaßtheit, Sammlung – keine Träne. Während meiner ganzen Zeit hier – und ich konnte mich schwer lösen von dieser Szenerie – habe ich keinen Menschen weinen sehen oder hören. Der Schmerz geht nach innen. Gerade dadurch teilt er sich einem Außenstehenden intensiver mit. Nebenan kommt ein jüngerer Mann an, Mitte Dreißig vielleicht, mit einer Plastiktüte. Daraus zieht er das Porträtfoto des Gefallenen, des Bruders wohl, ein lachendes junges Gesicht in jenen genormten fünfzig mal dreißig Zentimetern, und bringt es am Kreuz an, unter dem Schild mit Name, Datum, Rang. Das gelbe und das blaue Fahnentuch wird dann ordentlich darüber gelegt.
 
Zwei unterschiedliche Altersgruppen sind auf den Schildern abzulesen. Da sind die professionellen Militärs, Sergeante, Leutnants. Nach ihren Gesichtern waren das gesetzte Männer, in ihren Vierzigern, auch Fünfzigern, mit Bart und angegrautem Haar, Familienväter. Erschütternder ist es, in die Gesichter zu schauen, unter denen schlicht das Wort “Soldat” steht. Das sind die Freiwilligen, blutjunge Burschen, mit unausgeträumten blanken Gesichtern: von der Ausbildung weg, von der Schulbank, aus dem Hörsaal heraus. Geburtsjahrgänge der späten 1990er Jahre, genügend auch aus diesem Jahrtausend.
 
Diese Gesichter machen mich vollkommen sprachlos. Ich stehe still, schüttle den Kopf. Welches Wort sollte das fassen?
 
An die dreihundert Gräber mögen es sein, die ich an diesem Vormittag abgehe, weitere werden am Rand ausgehoben. Darunter habe ich nur ein Grab einer Soldatin entdecken müssen. Frauen sind durchaus an der Front, auch einige mir bekannte schreibende Kolleginnen. Doch gottlob werden sie entsprechend eingesetzt. Aber auch für sie sind die Gefahren tödlich, wie wir vor Tagen am Tod der Schriftstellerin Victoria Amelina erfahren mußten.
 
Immer wieder will ich fliehen von diesem Ort, und doch komme ich nicht los davon, gehe eine weitere enge Zeile des Todes ab und auch noch die nächste. Da höre ich von der Straße her eine Männerstimme singen, eine geschulte Tenorstimme, über Mikrofon. Menschen haben sich versammelt, unter Schirmen. Denn mittlerweile scheint es zu regnen, ohne daß ich es gespürt habe. Immer mehr Menschen strömen zusammen, von der Haltestelle der Busse und Straßenbahnen her, Schnittblumen in der Hand. Wieder wird also ein Gefallener unter die Erde gebracht.
Drei Männer sehe ich jetzt an der Kante eines aufgeworfenen Grabes stehen. Zwei Schwarzröcke der griechisch-katholischen Kirche und, in Jeans und einem schlabbrigen Polohemd, der Sänger.
 
Eine Weile höre ich ihm zu. Klänge. Keine Worte.
 
Dann spüre ich, daß ich jetzt gehen kann.
 

Geschrieben während des vierzehnstündigen Wartens im Autobus an der ukrainisch-polnischen Grenze im Sommer 2023.
 
Abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung am 15.Juli 2023

Unveränderte Wiedergabe in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.