Zwei Hälften des Lebens

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Zwei Hälften des Lebens

lm Jahr 2020 gab es drei 250. Geburtstage zu feiern, unter anderem den des Tonsetzers Ludwig van Beethoven aus Bonn. 1770 ist aber auch das Jahr, in dem ein einflußreicher Philosoph und ein schwärmerischer Dichter das Licht der Welt erblickt haben, und gemeint sind Hegel und Hölderlin, die beide kaum mit Vornamen genannt werden - sie lauten Georg Wilhelm Friedrich im ersten und nur Friedrich im zweiten Fall -, weil das Duo Markennamen der Kulturindustrie liefert. Dabei kann man ein Paradox beobachten. Wer sich auf ein Gespräch einläßt, wird zwar merken, daß niemand mit den Schultern zuckt, wenn die Namen der beiden Freunde Hegel und Hölderlin fallen, er kann aber auch herausfinden, daß Schweigen einsetzt, wenn man kühn behauptet, mit den Texten der beiden Männer nicht zurecht zu kommen, die beide einmal Theologie am Tübinger Stift studiert haben. Hegel ist in seinen Schriften ganz ehrlich, in denen zu lesen ist, „Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig“. Und wenn Hölderlin das Heidelberger Schloß in einem Gedicht besingt, nennt er sie „gigantische schicksalskundige Burg“, über die „die ewige Sonne ihr verjüngendes Licht goß“, und benutzt so Worte, die auch nicht unbedingt für unsereins - den Pöbel - gemacht sind. Ich dachte immer, man wird populär, wenn man Verständlich schreibt. Aber hier scheint das Gegenteil zu greifen, und die Bekanntheit von Hegel und Hölderlin scheint an der Unverständlichkeit ihrer Gedichte und Schriften zu hängen. Eine Doppelbiographie der beiden, die unter dem Titel „Zwei Hälften des Lebens“ erschienen ist, stellt die Frage, warum der eine Philosoph und der andere Poet geworden ist, haben sich beide doch in ihrer Jugend auch auf dem jeweils anderen Gebiet versucht. Offenbar geht nur das Eine - die Dichtung - oder das Andere - die Philosophie -, wie im Buch behauptet und wie hier bestritten wird. Das Gegenteil ist bei Goethe und Schiller der Fall, die beide dichten und philosophische Texte verfassen konnten - mit dem unschätzbarem Vorteil, daß dabei Verständliches zu Papier gekommen ist. Solange zwischen der Kunst und der Philosophie eine Kluft bleibt, solange bleibt in der einen Hälfte des Hauses der Kultur unverständlich, was in der anderen Hälfte fabriziert wird. Poesie kann Wahrheiten auf eine Weise ausdrücken, die der Philosophie unzugänglich bleibt und das Volk liebt. Wenn die Denker diese Hilfe verschmähen, erreichen sie das Gegenteil von dem, was sie wollen. Sie haben den Leuten dann nichts zu sagen.

© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.