ANTITEXT in Lemberg

... eine Literaturausstellung der anderen Art

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
ANTITEXT in Lemberg - 
eine Literaturausstellung der anderen Art
 
Von Michael Zeller
 
In diesen Zeiten des Kriegs kann die Ukraine nicht angeflogen werden. Ab der Grenze bleibt nur der Landweg. Die Straße von Krakau zur ukrainischen Grenze ist so gut wie leer. Von Gegenverkehr kann gar keine Rede sein. Der polnische Bus holt alles aus sich heraus, aber die Fahrt durch das nachtschwarze Ostpolen will dennoch kein Ende nehmen. Bis es dann schlagartig hell wird in der Finsternis der Nacht: die Grenze! So viel grelles Licht, von allen Seiten. Hier gilt das Wort „Grenze“ noch etwas. Es wimmelt von Menschen, Uniformierten. Schweres Fahrgerät, oft nagelneu, aufgereiht am Rand der Straße, endlos. Im Schritt fahren wir an der Kolonne vorbei. Bis wir stehen. Ein junger Uniformierter sammelt die Pässe ein. Danach die nächste Kontrolle. Eine Frau, klein, drahtig, streng. Schaut kritisch in meinen Paß. Was ich hier wolle. Kein Lächeln. Ich zucke die Achseln. „Tourist? Journalist?“ „Something like that …“, stottere ich. Was soll ich sagen? Mit einem abweisenden Blick in mein Gesicht geht sie weiter. Hoffentlich läßt sie mich durch.
 
Unser Bus wird zur Seite gewinkt. Sämtliche Koffer müssen raus. Das leere Fahrzeug wird anderweitig untersucht. Mitternacht ist längst vorüber. Jetzt, im Stehen, schaue ich mir erstmalig die Mitreisenden an. Es sind so viele, der Bus ist voll. Ihre Blicke gehen durch mich hindurch, als gäbe es mich gar nicht. Ich bin auch der einzige, der allein auf der Bank im Bus sitzt. Erleichtert nehme ich dort meinen Paß in Empfang, einen Blick bekomme ich nicht mehr.
 
Als ich aus leichtem Schlummer aufwache, dämmert es draußen bereits. Nebel über der Landschaft. Sie wirkt leer in dem fahlen Licht, wie Steppe. Galizien. Dieser Begriff ist mir am vertrautesten für die Gegend hier. Langsam mischt sich ein vages Rosa ins Grau, von unten, breitet sich aus, gewinnt die Oberhand. Sonne! Aus der Steppe wird Vorstadt-Wüstenei: Lemberg nähert sich. Es ist 5 Uhr morgens, taghell mittlerweile, als wir vor dem Bahnhof stehen, einem schönen repräsentativen Bau aus den späten Tagen Habsburgs. Neun Stunden Busfahrt liegen hinter uns. Vorsichtig gehe ich die Stufen runter. Fester Boden wieder unter den Füßen. Angekommen. Die Mitreisenden schauen jetzt noch spürbarer an mir vorbei. Einsamer nie …
 
Da sehe ich ihn stehen, den jungen Mann. Schmal, dunkel, zwischen zwei Krücken. Sein rechter Fuß ist ab. Entsetzen im Blick. Das reißt ein Loch in meine Welt.
 
Da hilft nur Wegsehen.
 
Mir. Ihm nicht.
 
Was ich in der Ukraine will? Die Ausstellung ANTITEXT sehen, die seit kurzem hier in Lwiw gezeigt wird. Sie versucht, die systematische Unterdrückung der ukrainischen Literatur in der kommunistischen Sowjetunion zu zeigen und, so weit es geht, auch zu dokumentieren. Die Wiedergeburt der ukrainischen Staatlichkeit nach 1917 hatte im Land zu einer kulturellen und literarischen Blüte geführt. Anfang der 1920er Jahre entstanden zahlreiche ukrainischsprachige Verlage, Zeitschriften und literarische Gruppierungen.
 
Damals wurde in Charkiw, seinerzeit Hauptstadt der Ukraine, ein Literaturmuseum gegründet, das die bisherigen Bestände sammeln und sichern sollte. Dieses Museum besteht bis heute, und es ist auch der Organisator der jetzigen Ausstellung in Lemberg. Wegen des ungleich heftigeren Krieges in der Ostukraine ist man ins tausend Kilometer weiter westlich gelegene Lwiw ausgewichen, zur Zeit noch am Rand des militärischen Geschehens.
 
Bereits in den 1930er Jahren folgte der kurzen Zeitspanne künstlerischer und literarischer Blüte die wüste Zeit des stalinistischen Terrors, der auch die ukrainischen Schriftsteller auf das Brutalste traf. Dafür wurde hier der Begriff „Erschossene Wiedergeburt“ geprägt.
 
Der Verlust an Menschenleben damals war ungeheuerlich. Um 1930 waren in der Ukraine 259 Schriftsteller erfaßt worden, die Bücher veröffentlichten. Nach 1936 waren davon gerade noch 36 übrig geblieben. Der Rest? 175 verschwanden in Konzentrationslagern, ein großer Teil wurde erschossen, einige nahmen sich das Leben, gingen ins Exil oder sind verschollen. Gerade mal 7 von den einst 259 Autoren sind irgendwann eines natürlichen Todes gestorben.
 
Eines der letzten Opfer des russischen Sowjetregimes war der Dichter Vasyl Stus (1938-1985). Heute gilt er als einer der größten Lyriker seines Landes. Ganze 23 Jahre seines kurzen Lebens verbrachte Stus in verschiedenen Straflagern wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“, auch noch in der Ära Gorbatschow. Im sibirischen Lager Perm starb Stus an Entkräftung, mit 47 Jahren. Ein großer Teil seiner Gedichte hat leider nicht den Weg aus den Lagern gefunden.
 
Hinter diesen Tatsachen verbirgt sich mehr als die Tragödie der Literatur einer Sprache und eines Landes. Die Vernichtung der schriftstellerischen Elite durch den Moskauer Kommunismus bedeutete den Versuch, eine ganze Kultur auszulöschen und ungeschehen zu machen.
 
Die Ausstellung ANTITEXT ist passenderweise im Gefängnis Lonskogo untergebracht, einer massigen, vertikal gedrungenen Militärkaserne aus dem Ende des 19.Jahrhunderts, der Epoche Habsburgs. Es wurde nach dem Ersten Weltkrieg zuerst von den Polen, dann von der deutschen Wehrmacht (1941-1943) und die entschieden längste Zeit, fast ein halbes Jahrhundert lang, von den Sowjets als Polizeigefängnis gegen Ukrainer beiderlei Geschlechts benutzt, Personen, die ihnen mißliebig waren.
Victoria führt peinlich detailgetreu durch die drei Geschosse von Folterkammern. Nach mehreren Zellenzeilen trete ich beiseite und breche ab. Angesichts so vieler ausgeklügelter Methoden des Quälens kann ich nicht weiter.
 
Diese Räumlichkeiten sind das Beeindruckendste der Ausstellung ANTITEXT. Die eng beschriebenen Schautafeln mit Texten, wie man literarische Bücher zu verhindern und zu sanktionieren habe, können da nicht mithalten. Außerdem waren die Veranstalter vom Literaturmuseum Charkiw genötigt, auf originale Exponate zu verzichten – aus Furcht vor weiteren Versuchen der russischen Armee, gerade auch ukrainisches Kulturgut zu zerstören und zu plündern, wie es derzeit an anderen Stellen mehrfach geschehen ist und weiter geschieht. Die meisten Originale sind längst ausgelagert an (hoffentlich) sichere Örtlichkeiten.
 
Von diesen Bildern sich zu lösen, die man im KGB-Gefängnis Longskogo überstehen muß und die auch auf dem Fußweg zurück ins Zentrum dieser wunderschönen alten ostmitteleuropäischen Stadt im Kopf weiterwirken, fällt schwer. Als tröstlich empfand ich es da, daß die Innenstadt von Lemberg überzogen ist von Kirchen, dicht bei dicht aneinander gereiht: Gotteshäuser, mit ihren nach oben ins Jenseits ausgerichteten Architekturen, für die verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen und Heilsversprechen, seien sie griechisch-katholisch, orthodox, katholisch, evangelisch. Es sind ihrer so viele, daß ich gar nicht erst versuche, mir die einzelnen Namen zu merken. (Daß alle geöffnet sind, versteht sich hier von selbst.) Was diese Kirchen eint, über die religiöse Botschaft hinaus: Alle sind sie weit geschnitten, aufs Große gerichtet, im Geist des Barock. Und jede von ihnen hat ihr ganz eigenes Armona, das mich fesselt und mich länger hält, als ich es vorhatte. Erst in den letzten Jahren sind sie, über Jahrzehnte im Kommunismus zweckentfremdet, ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben. Und leer stehen sie nie. Zu keiner Stunde des Tages ist man hier allein. Immer sitzt jemand in den Kirchenbänken, zu mehreren, und da wird gebetet und geredet mit Gott oder dem Nachbarn. Und oft genug hat man noch ein besonderes Glück in diesen Kirchen. Wunderbar geschulte Chöre sind auf einmal zu hören, ausschließlich tiefe Männerstimmen.
Dann dauert es seine gute Weile, bis ich den Ausgang finde und dem Mütterchen mit Kopftuch am Portal ein paar Hryvna in die Hand drücken kann, als bescheidenen Dank für das spontane Konzert, das ich gerade geschenkt bekommen habe, nach diesen Stunden des Grauens von Lonskogo.
 

© Michael Zeller
Erstveröffentlichung in den Musenblättern
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