Lemberg in den Tagen des Kriegs

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Lemberg in den Tagen des Kriegs
 
Von Michael Zeller
 
Lwiw an einem warmen Sommerabend. Auch im zweiten Jahr dieses russischen Krieges pulsiert in den Straßen ein Leben, wie es anderswo in Europa nicht unbeschwerter denkbar wäre. Ein reges Auf und Ab in dieser wunderschönen alteuropäischen Großstadt, junge Menschen drängen sich in Gruppen durch die engen, gepflasterten Straßen und Gassen, fröhlich, ausgelassen. So wirkt es jedenfalls  auf den Gast von außen. Ein Straßencafé grenzt an das andere, alle sind sie voll belegt. Überall dazwischen wuseln Kinder. Man sitzt, steht herum, ißt, trinkt, lacht – das entspannte Gefühl von Freizeit und Feierabend.

Mitten im Trubel sitzen Schachspieler auf den Bänken, zwischen sich das Brett, manche mit Uhren an der Seite. So schieben sie, wie unter einer Glocke, schweigend ihre Figuren. Daneben unüberhörbar die Stimme eines Sängers. Es ist ein großer Auftrieb von Straßenmusikanten hier, dicht über die Ecken und Plätze der Stadt verteilt. Bei ihnen verweile ich gern. Es fällt mir auf, daß dabei,  auch bei den wenigen Sängerinnen, der Text stark dominiert. Ich verstehe zu wenig, habe beim Zuhören aber doch den Eindruck, daß sie in ihren Liedern Bezug nehmen auf die aktuelle Situation in ihrem Land. Alles andere wäre ja auch ein Wunder.  Besonders wenn man hinter dem Rücken des Gitarristen die mit Sandsäcken zugestopften Kellerfenster im Blick hat, und weiter oben die Spanplatten vor den Fenstern von Museen, Ämtern, Banken.

In einem der Straßenlokale nehme ich zum Abend ein georgisches Reisgericht ein und will auf dem Weg ins Hotel noch eine Runde durch die Innenstadt machen, die architektonisch geprägt ist von den wuchtig schweren Gebäuden vom Ende des 19.Jahrhunderts, mit ihren überbordend verspielten Ornamenten, als Lemberg die Kapitale des österreichisch-ungarischen Kronlandes Galizien war. Nach wenigen Schritten bereits aber reißt das laute Leben der Großstadt abrupt ab, von einem Augenblick zum nächsten: 22 Uhr. Ausgangssperre.

Im Nu sind die Stühle von den Bürgersteigen weggeräumt, die Straßen wie leergefegt. Irgendwo frage ich noch nach einem Bier und werde mit einer schon fast kremlhaften Schroffheit abgewiesen. Frag kein zweites Mal!

Ausgangssperre. Dieses Wort gilt. Den Eindruck, daß hier in der Stadt etwas gilt, daß dann jeder Einspruch, jede Reklamation, jedes Nörgeln zwecklos ist, habe ich den verschiedensten Situationen hier oft.

Frag kein zweites Mal! Hier herrscht Krieg.

Bereits um 22 Uhr sitze ich also im sommerlich aufgeheizten Hotelzimmer und höre bald die ersten Sirenen. Glücklicherweise weit genug weg. Erhalten bis in die Nacht bleibt mir, im Viertelstundentakt, die Glocke der Peter und Paul-Kirche.
So weiß ich immer, was die Zeit geschlagen hat, mir und allen anderen -  urbi et orbi.

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Die Peter und Paul-Kirche, einen Steinwurf weit vom Lemberger Marktplatz entfernt – sie ist ein prächtiger Bau des italienischen Barock. Ab 1610, als dieser Baustil in Europa gerade der allerneueste Schrei war, wurden ihre Mauern in die Höhe gezogen. Der Architekt war eigens aus Italien geholt worden.
Den Kommunisten diente der herrliche Kirchenbau von Peter und Paul über Jahrzehnte als Bücherdepot. Erst vor wenigen Jahren wurde der hohe Raum mit seinen reich verzierten und barock bemalten Seitenschiffen wieder seiner ursprünglichen Bestimmung als Kirche übergeben.

Jetzt stehe ich vor dieser kunstvollen Fassade, meine  in Italien zu sein und fühle mich glücklich. Oder sollte ich sagen: Ich freue mich an dem Reichtum unseres Europa?

Gleichzeitig springt mich der Gedanke an: Und gerade führt dieser schönheitsselige Kontinent wieder einmal Krieg ...

Gern atme ich in dieser Kirche jeden Morgen, vor Antritt meiner Wege in die Stadt, eine Brise des kräftigen Weihrauchs ein und nehme sie mit nach draußen. Natürlich hat der Krieg auch im Inneren der renovierten Kirche seine Spur hinterlassen. Das linke Seitenschiff ist voller Stellwände, die überzogen sind mit postkartengroßen Fotos von den gefallenen Söhnen der Stadt. Darüber hängen an Fäden Vögel, aus grauem Papier gefaltet. Als seien das die Seelen der Toten. Die Hinterbliebenen, vielleicht auch gerade die Kinder, mögen Engel darin sehen und dabei einen Trost empfinden.

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Die Peter und Paul-Kirche ist wahrhaftig nicht die einzige Kirche in der Innenstadt von Lemberg. Dicht bei dicht stehen sie hier aneinander gereiht: Gotteshäuser, mit ihren nach oben ins Jenseits ausgerichteten Architekturen, für die verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen und Heilsversprechen, seien sie griechisch-katholisch, orthodox, katholisch, evangelisch. Es sind ihrer so viele, daß ich gar nicht erst versuche, mir die einzelnen Namen zu merken. (Daß alle geöffnet sind, versteht sich hier von selbst.)

Erst in den letzten Jahren sind sie, über Jahrzehnte im Kommunismus zweckentfremdet, ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückgegeben. Leer stehen sie nie. Zu keiner Stunde des Tages ist man hier allein. Immer sitzt jemand in den Kirchenbänken, allein und  zu mehreren, und da wird gebetet und geredet mit Gott oder dem Nachbarn. Und oft genug hat man noch ein besonderes Glück in diesen Kirchen. Wunderbar geschulte Chöre sind auf einmal zu hören, ausschließlich tiefe Männerstimmen.

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Und wieder war in Lemberg ein neuer Tag angebrochen. Wie zur schönen Gewohnheit geworden, wollte ich ihn mit einem kurzen Besuch bei Peter und Paul beginnen. Doch damit war es heute nichts. Auf dem ganzen Platz vor der Kirche, auf beiden Bürgersteigen zu Seiten des Eingangs standen dicht gedrängt uniformierte Menschen: mit grünen Baretts und in den gefleckten Feldanzügen, Männer in der Mehrzahl, aber auch Frauen. Großes Schweigen lag über dieser Menschenansammlung, kaum eine Bewegung. Allenfalls flüsterte mal einer dem andern etwas ins Ohr. Fast alle hielten einen Strauß von Schnittblumen in Händen. Da wurde also wieder eine Beerdigung zelebriert.

Hier wäre kein Durchkommen gewesen, ich hätte umkehren müssen. Doch danach war es mir jetzt keineswegs. Fragen mochte ich niemanden hier. Aber da die Peter und Paul-Kirche auch Garnisonskirche ist,  mußte es sich wohl um einen höheren Militär handeln, der in der Kirche in einem Gottesdienst verabschiedet werden sollte.

Wie lange ich stehen blieb bei diesen bewegungslosen, stummen vielen Menschen im gleichen Gewand – ich weiß es nicht. Auch die Zeit blieb stehen. Bis dann von der Seitenstraße her aus dem Heck eines Kombi ein schwarzer Sarg gezogen wurde. Männergesang erklang. Drei oder vier Priester tauchten auf, hinter einem Kreuz. Acht junge Soldaten in schmucken Uniformen trugen den Sarg schwankenden Schritts die Kirchentreppe hoch ins Innere. Damit kam langsam Bewegung in die Menge. Sie löste sich auf. Die Menschen, mit ihren Blumen am Knie, gingen sehr langsam, als könnten sie den Akt des Abschieds hinauszögern, die Stufen hoch, Fuß vor Fuß. Der Kirchenraum schien unendlich viele Personen zu verschlingen. Aber längst nicht alle fanden darin Platz. Zu beiden Seiten des Portals stauten sich genügend Trauernde, die keinen Einlaß fanden, oder erst sehr viel später.

Dann ging auch ich. Als ich nachmittags, auf dem Heimweg, den Kirchenraum betrat, war keine Menschenseele mehr hier zu sehen, keine Blume – nicht eine Spur davon, was vor Stunden hier stattgefunden hatte.

Aber vielleicht hing jetzt ein gefalteter Vogel aus grauem Papier mehr vom Scheitel des Seitenschiffs herab.

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Ich kenne keine Stadt in Europa, selbst Wien nicht, in der so viel von Habsburg in der Luft schwingt wie hier in Lemberg. Das 19.Jahrhundert ist in der Innenstadt baulich konserviert wie nirgendwo sonst. Wenig wurde abgerissen und erneuert. Es mußte auch nicht sein. Oper, Theater, die eleganten Grand-Hotels, die einschüchternd mächtigen Versicherungsbauten, Kirchen, Schulen, Kliniken, Gerichte, Banken in der Dimension von Palästen, für unsere nüchtern gewordenen Augen jedenfalls - und das alles hat die Feuersbrünste des Zweiten Weltkriegs überstanden. Außerdem fehlte – gottlob! – auch das Geld, das gute Alte aus Neuerungssucht wegzureissen. Es blieb einfach stehen. Und wenn hier die alten Straßenbahnwagen durch die engen Straßen quietschen und bimmeln, kann man sich selbst noch in ein früheres Jahrhundert versetzt fühlen.

Es war mir eine Freude, die ich nur schwer benennen kann, zum Abendessen, drinnen oder draußen, im Lokal mit dem Namen “Wiener Café” zu sitzen. Im Garten hatte ich das neue Standbild des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko im Blick, das seit 1990 in keiner Stadt des Landes fehlen darf, und auf der anderen Seite reckte sich das steile Dach der Peter und Paul-Kirche in den Sommerhimmel. Ein paniertes, flach geklopftes Schnitzel füllte vorbildlich meinen Teller, Salzkartoffeln mit Dill dazu, und ein Krug mit Lemberger Bier der Marke “Lwiw 1715”. Und daneben aufgeschlagen meine Reiselektüre, die bizarre Geschichte von Joseph Roth, ”Flucht ohne Ende”, die er einen “Bericht” nennt und die nichts weniger ist als das. Nicht weit von hier kam er her, der junge Roth, aus dem russischen Brody, um an der hiesigen Universität zu studieren, bis es ihn dann bald ins Herz von Habsburg zog, nach Wien, und dann weiter und weiter, freiwillig oder vertrieben, wie sein kurzes Leben es eben mit ihm vorhatte.

Auch diesen Schriftsteller hat der Krieg auf diesem Kontinent das Fürchten gelehrt. Und das Wandern.
 

© Michael Zeller
Erstveröffentlichung in den Musenblättern