Unterwegs ins Blaue

Michael Zeller – „Wendisches Sommergewitter“

von Frank Becker

Unterwegs ins Blaue
 
Ein wendisches Protokoll
 
1995. Gorleben und das Wendland sind für Politik, Polizei und Presse, vor allem aber für die Wendländer und die Anti-Atomkraft-Bewegung zum Nabel der Welt geworden. Für die Politik, weil sie händeringend nach einem Ausweg aus dem Dilemma des Atom-Mülls sucht und den nun auf Biegen und Brechen im Wendland verbuddeln will. Für die Polizei, weil sie die Entscheidungen der Politik durchsetzen muß. Für die Presse, weil sie in ihrer bekannten Nachrichten-Gier auf Konflikte hofft (bad news are good news). Für die Wendländer aber, weil es um ihre friedliche Existenz geht, die sie gewaltfrei schützen möchten.
 
In diese historische Situation wird der Schriftsteller Carlo Andrich geworfen, zufällig eher, weil er als Stipendiat des Landes Schleswig-Holstein und Autor in Residenz für ein Jahr in das Künstlerdorf Schreyahn entsandt wird, einen bis 1990 von der Welt abgeschiedenen Rundling in dem in die DDR wie ein Stachel im Fleisch regenden östlichen Zipfel der Bundesrepublik. Hier nun soll er schreiben. Das geschieht zweigleisig, denn Andrich ist neugierig, interessiert am täglichen Leben, an der Natur im Jahreslauf und an der alle Generationen und Gesellschaftsschichten erfassenden friedlichen Widerstandsbewegung der Wendländer. Andrich ist ein stiller Beobachter von bestechender Neutralität und Sachlichkeit, ein zutiefst aufmerksamer Betrachter von Menschen und Natur, ein präziser Protokollant von Ereignissen und Abläufen. Also schreibt er auf seiner alten Reiseschreibmaschine: Geschichten, die in New York spielen – und Aufzeichnungen des gegenwärtigen Alltags.
 
Natürlich erkennen wir in Kenntnis seiner Vita in Andrich seinen Schöpfer Michael Zeller, der 1995 in genau dieser Situation fast ein Jahr zwischen Künstlern und Bauern im Wendland, in preisgekrönten Dorf („Unser Dorf soll schöner werden“) Schreyahn verbrachte. Zellers delikate präzise Sprache, seine mit gehöriger Distanz aber großer Empathie notierten Aufzeichnungen über Natur und Dorfleben, die ganz kleinen Beschreibungen der Natur und ihrer Jahreszeitenwechsel machen – wir tauchen mit ihm in Schreyahns Leben ein – jeden Leser zum Augen- und Ohrenzeugen. Ob es der unter den Sohlen knirschende Frost ist, das bange Beobachten des zurückkehrenden Storchs (wird er sein vorbereitetes Nest annehmen?), eine in Pils und Korn versinkende Gemeindeversammlung, dörfliche Konflikte oder die unmittelbare Begegnung mit den höflichen jungen Polizisten, die den Castor-Transport schützen müssen – man ist hautnah dabei und saugt jeden Satz auf, nicht zuletzt wegen seiner freundlichen Sachlichkeit und seines trockenen Humors, der nie jemanden verletzt.
 
Wendisches Sommergewitter deutet sich nur einmal an, in der Ferne und bedarf keiner Vertiefung. Die Novelle ist ein Lesegenuß, zumal wegen ihrer anhaltenden Aktualität, besonders aber wegen ihrer bilderreichen, ruhigen Sprache. Von den Musenblättern empfohlen. Ein Tip auch für Lehrer und Kultusminister: Als Schullektüre wäre „Wendisches Sommergewitter“ wertvoll und unbedingt geeignet.
 
Michael Zeller – „Wendisches Sommergewitter“
Künstlernovelle
© 2023 Verlag Rote Katze, 106 Seiten, Hardcover – ISBN 978-3-9824732-6-0
20,- €
 
Weitere Informationen:  https://rotekatzeverlag.de   -  www.michael-zeller.de