Die Gentechnik und die Suhrkamp Kultur

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Die Gentechnik und die Suhrkamp Kultur
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Anfang der 1970er Jahre erschienen in dem damals schon berühmten Suhrkamp Verlag die ersten Bände einer Reihe, die „suhrkamp wissen“ heißen sollte und keinesfalls mit „Suhrkamp Wissenschaft“ verwechselt werden darf. Während das kleingeschriebene „wissen“ ankündigte, den Leserinnen und Lesern etwas Naturwissenschaftliches zu bieten und Batterien und Bakterien neben Planeten und Proteinen vorstellen wollte, hielt sich die großgeschriebene „Wissenschaft“ mehr an soziologisches, politisches und philosophisches Gedankengut, und der Verlag hatte damit den Erfolg, der dem kleinen „wissen“ verwehrt blieb. Diese Paperback Reihe sollte eine große Aufgabe übernehmen, wie der Suhrkamp dem Publikum damals mitteilte, „Schon heute [1970] steht die Mehrheit der Menschen den Problemen der Naturwissenschaft verständnislos und ratlos gegenüber“, wie ein Verlagsprospekt verkündete, was man als „Bildungskatastrophe“ identifizierte, die es zu verhindern galt. Allerdings – das Vorhaben fiel beim Publikum durch – aus was für Gründen auch immer –, die Reihe „suhrkamp wissen“ wurde zum Ladenhüter und die hübsch anzusehenden Bände verschwanden vom Markt. Suhrkamp Leserinnen und Leser wollte von der Erforschung der Natur nichts wissen, und so konnte die angekündigte „Bildungskatastrophe“ ihren befürchteten Schwung aufnehmen, und sie hat schlimmer und nachhaltiger gewütet, als sich viele Menschen bis heute klarmachen.
 
Kurioserweise hat in meinen Augen ausgerechnet der Suhrkamp Verlag dabei eine wichtige Rolle gespielt, denn 1973 hat ein Literaturwissenschaftler namens George Steiner den von der Marketingabteilung des Verlags sofort ausgeschlachteten Begriff der „Suhrkamp Kultur“ geprägt, als er eine Ausgabe der Werke von Theodor W. Adorno besprach. Steiner wollte loben, daß der Suhrkamp Verlag wichtige philosophische Texte einem breiten Publikum zugänglich gemacht hatte, und ihm gefiel, daß die Naturwissenschaften dabei links liegen gelassen wurden. Als er den Erfolg seiner Wortprägung sah, nutzte Steiner die günstige Gelegenheit, den von ihm gehassten Naturwissenschaften vorzuwerfen, auf die Fragen der Moral und Politik keine Antworten geben zu können, und er da er gerade dabei war, sprach er ihnen jede Bildungsqualität ab, was bis zum Ende des 20.Jahrhuinderts wiederholt wurde, als Dietrich Schwanitz in seinem Buch über „alles, was man wissen muß“, erklärte, von den Naturwissenschaften müssten Dichter und Denker nichts wissen. Für geistlose Geisteswissenschaftler wie Schwanitz und Steiner stellen Physik, Chemie und Biologie nur „eine anonyme, kollektive träge Bewegung“ ohne eine Spur von Kreativität dar, und die genannten Disziplinen produzieren bestenfalls „minderwertige Wahrheiten“ und zweitrangige Einsichten, mit denen man Philosophen und andere Intellektuelle wie sie nur langweilen könne und nicht belästigen solle.
 
Es wird vielen Menschen nicht aufgefallen sein, aber seit Steiners Diktum werden die Biographien großer deutscher Forscher entweder im Ausland oder von mir geschrieben (Hermann von Helmholtz, Werner Heisenberg, Max Planck), wenn diese flapsige Formulierung erlaubt ist. Ich kämpfe dabei einen fast aussichtslosen Kampf, denn in Steiners Windschatten haben sich prominente Suhrkamp Autoren aus ihren Verstecken gewagt und verkündet, „die wissenschaftlich erforschte Natur fällt aus dem sozialen Bezugssystem von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen, die sich gegenseitig Absichten und Motive zuschreiben, heraus.“ Gleichzeitig wollen sie „die Gewalt technischer Verfügung in den Konsensus handelnder und verhandelnder Bürger“ zurückholen, was Faust sagen lassen würde, „der Kasus macht mich lachen.“
 
Es ist schon ein komischer Widerspruch: Erst sorgte sich Suhrkamp um das Verschwinden der naturwissenschaftlichen Bildung, und dann sorgte der Verlag dafür, daß genau dies eintrat, nämlich die Einschätzung der dazugehörigen Kenntnisse als überflüssig und unnötig. Die sich wissenschaftsfeindlich gebärdenden Autoren des mit soziologischen Texten florierenden Verlags etablierten einen Durchbruch des gesellschaftspolitischen Denkens, der in einer radikalen Abkehr von der klassischen Bildungstradition bestand. Es ging in der ausgerufenen Suhrkamp Kultur nicht mehr um Geist, Ideen und klassische Bildung, es ging ihren Schöpfern um Gesellschaft, Einkommen, soziale Gerechtigkeit, und sie versuchten, eine Theorie der Gesellschaft ohne jede szientistische Vorgabe zu entwerfen, was wissenschaftshistorisch Unfug ist. Ein damals aufgestellter „Bildungsgesamtplan“ (1973) enthielt keinen allgemeinverbindlichen Kanon mehr. Gymnasien und Universitäten kümmerten sich von nun an um individuellen Neigungen und die Berufsvorbereitung. Der Prozess der Bildung, der das Individuum zu Selbständigkeit und Freiheit, zur Teilhabe am Kulturganzen und zu geistigen Genüssen befähigen sollte, geriet dank der Suhrkamp Kultur nahezu vollkommen in Vergessenheit. Ihre Vertreter – anfangs tauchten keine Frauen auf – müssen eine enorme Angst vor der Qualität der Naturwissenschaften entwickelt und sich in der Sphäre des Geistigen minderwertig gefühlt haben. Man darf fragen, wie diese Entwicklung zustande gekommen ist, denn in den 1960er Jahren waren viele politische und soziologische Denker als Futurologen mit dem Gegenteil beschäftigt, nämlich damit, den Menschen „Die Welt im Jahr 2000“ schmackhaft zu machen, wie viele Bücher verkündeten.
 
Doch kann kam das Jahr 1973 und mit ihm – nach der sachlich eher verunglückten, psychologisch aber weitgehend akzeptierten Warnung vor den „Grenzen des Wachstums“ – tauchte die Möglichkeit auf, das Erbmaterial nicht nur des Menschen erst genauer in den Blick zu nehmen und dann zu ändern. Gemeint ist die Gentechnik, die Methode zur Rekombination von DNA, die den Wissenschaftlern genau das bescherte, was technischer Fortschritt seit jeher wollte und will, nämlich Macht über die Dinge der Welt zu erlangen und sie im Wortsinne zu manipulieren. Plötzlich hielten die Genetiker und die Gentechnikerinnen in den Augen einiger Ethiker und Philosophinnen zu viel Macht in den Händen, wobei sich zum allgemeinen Ärger der Suhrkamp Anhänger und Autorinnen herausstellte, daß die Einsichten, die mit der neuen Methode möglich wurde, viel Kreativität von ihren Schöpfern erforderten und von Wissenschaftstheoretikern als hochwertig bezeichnet wurden. Mit der Gentechnik zeigte sich zum Beispiel, daß Gene in Zellen nicht am Stück vorliegen, sondern in Stücken zu finden sind, was der Natur eine neue Dimension in die Hände gibt, das Leben vielseitig zu gestalten und sich immer wieder neuen Situationen anzupassen, die man in der sich dauernd ändernden Umwelt antreffen kann, wobei derzeit der Klimawandel eine große Rolle spielt. Vielleicht kann das Leben ihm dank der Flexibilität seiner Gene begegnen, was dem menschlichen Dasein mehr den Charakter eines Werdens geben würde, mit dem man täglich zu tun hat.
 
Die Analyse der Gene ließ die tiefe Bedeutung des grundlegend romantischen Gedankens deutlich vor Augen treten, den man durch die einfache Formulierung ausdrücken kann, „Es gibt nur Bewegung!“. Im Leben gilt der Satz innen (bei dem Erbmaterial) wie außen (bei einer lebenden Person und in der Welt), und so bestätigte die Gentechnik, was Goethe schon gewußt hat, als er dichtete: „Nicht ist drinnen, nichts ist draußen, denn was innen, das ist außen“. Goethe ermutigte seine Zeitgenossen, dies ohne Säumnis als „heilig öffentlich Geheimnis“ zu ergreifen, und die kreative Gentechnik hat diesen Schritt möglich gemacht. Die Vertreter der Suhrkamp Kultur wollen das bis heute nicht wissen, und sie sollten sich dafür schämen, wie Einstein 1930 gemeint hat. Damals hat er alle Menschen, die sich der Wunder von Wissenschaft und Technik bedienen und davon nicht mehr verstehen als die Kühe von der Botanik der Pflanzen, die sie fressen, angehalten, sich zu schämen. Ich befürchte nur, daß vielen Wissenschaftsverächtern dafür die intellektuellen Voraussetzungen fehlen, und ich sehe in dieser stumpfen Sturheit die Bildungskatastrophe der Gegenwart und eine Gefahr für die Zukunft. Die Suhrkamp Kultur ist gefährlicher als die Genforschung. Ob der Ethikrat das weiß?

 
© Ernst Peter Fischer