Die beste Zeit ist immer die, die kommt

Vom Lesen einer Stadt, die sich zu gern vergißt

von Max Christian Graeff

M.C. Graeff - Foto © Camillo Paravicini

Die beste Zeit ist immer die, die kommt
 
Vom Lesen einer Stadt, die sich zu gern vergißt
 
Von Max Christian Graeff
 
Es geht in den Herbst! ruft die rasante Werbehandschrift auf einem Idyll in gedeckten Farben: Zwei Kinder hinter der Stubenscheibe schauen den Weißstörchen zu, die sich durch einen bewegten Himmel nach Süden schwingen. Das Plakat von etwa 1948, steingedruckt auf schlechtem Papier, fand sich mit anderen Kulturzeugnissen aus der lokalen Nachkriegszeit im Schutt einer verfallenen Barmer Druckerei. Es geht voran! schrien alle Parolen: Greift zu den Schippen und baut eine neue Zeit! Es gab Warnplakate über die Erblindungsgefahr des Schwarzmarktalkohols und sogar manch Heiteres, das die entsetzliche, flächendeckende Trümmerlandschaft nach der Weltkatastrophe der Nazidiktatur vergessen machen wollte – und damit auch die vielen Jahre, in denen diese, jeder Menschlichkeit zum Trotz, herbeigeführt wurde. Die relativ wenigen erhaltenen Druckprodukte aus jenen Alltagen lassen uns heute erstaunt durch die Zeit reisen und sollten viel mehr sein als kuriose Dekoration.
            Es gibt eine außerordentliche Flut von Schrift- und Bildgut aller Art über das Konglomerat unserer einzigartigen Stadtlandschaft. Vieles zeigt teils kuriose Theaterkulissen des zeittypischen Marketings, doch auch die „ernste“ Literatur reiht sich seit spätestens der Mitte des 19. Jahrhunderts in sehr langen Regalmetern auf. Zugleich wurde nie genug aus allen Blickwinkeln über dieses industrielle, gesellschaftliche und kulturelle Labor geschrieben, sodaß wir bis heute lediglich Bruchstücke zusammensetzen: ein Puzzle aus endlos vielen Steinen, das im Falle Wuppertals nie nur Lokal-, sondern stets Weltgeschichte zeigt. Der Traum von einer Bibliotopia, einer alles Erschienene umfassenden Bibliothek, ist so uralt wie naturgemäß utopisch. Eine solche Tal-Sammlung mitsamt den Schrift-, Musik- und Bildwerken aller Hiesigen, mit Dokumenten und Nachlässen würde locker die Kaufhof-Etagen füllen, doch wer möchte das und wer wills betreiben? So puzzeln wir weiter an einem Bild ohne Ränder und Ecken, das unsere jeweils beste Zeit abzubilden versucht, so, wie wir sie im Moment gerne hätten.
            Inmitten der Nachrichten aus dem Bücherherbst, kurz vor der ältesten und größten Buchmesse der Welt, scheinen die News aus der lokalen Verlagslandschaft kaum auf. Es sind keine guten Zeiten für die luxuriösen Leidenschaften der Konzentration, der Neugier und der Reflektion. Manches gibt es nur noch den Verhältnissen zum Trotz, selbst wenn es unentbehrlich scheint: Zum Beispiel das seit sagenhaften vierzig Jahren Monat für Monat nicht fortzudenkende Programmheft iTALien, eine tolle Chronik jener so überreichen wie stets mager ausgestatteten Stadtkultur, an der man eindeutig ablesen könnte, welche Effizienz die freie Kultur auch in der Wirtschaft und Wissenschaft eines Stadtreaktors hervorrufen kann. Mit „Satire“ ist die enorme Leistung dieses Magazins wirklich nur mangelhaft beschrieben. Das große Humor-Mutterheft „Titanic“ ist gerade fast an einem finanziellen Eisberg zerschellt. Interessiert es noch jemanden, daß es unserer geliebten iTALien-Schaluppe mit ihrer so wertvollen Fracht jederzeit genauso gehen kann?
            Zu spät kommt die Sorge für das eigentlich ebenso unentbehrliche Quartals-Kulturmagazin „Die beste Zeit“, das zum Jahresende endgültig absaufen muß; ein Skandal erster Güte, den wir am besten ganz schnell vergessen – was ja leicht fällt in einer Stadt, die sich nicht schätzt. Es wird Neues kommen, von anderen, zu einer neuen „besten Zeit“. Im Japanischen heißt das Aufstapeln einer immerhin gekauften, jedoch ungelesen bleibenden Lektüre „Tsundoku“; vielleicht wäre dies ja ein angemessener Name.
 
 
© Max Christian Graeff