Ein Herz für Gewichtsvorteile
Leibesfülle stand einmal hoch im Kurs. Wenn jemand im frühen 20. Jahrhundert zum Beispiel Präsident der USA werden wollte, dann mußte er schon einige Pfunde auf die Waage bringen. Der Bauch diente nicht nur dazu, die Kette einer goldenen Taschenuhr zu präsentieren, sondern auch auf eine gut ernährte Gesundheit zu verweisen.
Diese Zeiten haben sich längst in ihr Gegenteil verkehrt, und seit den Nachkriegstagen des 20. Jahrhunderts gilt Schlankheit als Ausdruck von Fitness. Abnehmen heißt die Devise, wenn man nicht krank werden will, wobei Streit darüber ausbrechen konnte, wie weit ein Einzelner Macht über seine Körperfülle hatte. Ich erinnere mich an einen wohlbeleibten Lehrer mit Herzproblemen, dem sein ohne ein unnötiges Gramm umherlaufender Arzt als Teil der Therapie dringend geraten hatte, sein Gewicht zu reduzieren. Der Lehrer versprach, sich um die angemahnte Schlankheit zu kümmern, aber nur, wenn ihm der Arzt vorher gezeigt habe, daß er selbst das Gegenstück fertig bringen und an Gewicht zulegen könne. Der Lehrer ist sein Leben lang dick geblieben und später an Herzversagen gestorben - allerdings erst kurz vor seinem 90. Geburtstag -, und dem Arzt ist es nicht gelungen, so an Umfang zuzulegen wie sein Patient. Aus dieser und vielen anderen Beobachtungen glauben wir inzwischen schließen zu können, daß Fettleibigkeit weniger von außen und mehr von innen - von den Erbanlagen her - zustande kommt. Wir bedauern deshalb, wer mit solchen Genen ausgestattet ist, die doch offenbar das Risiko eines Herzversagens mit tödlichen Folgen erhöhen.
In diese Gewißheit platzt das gegenteilige Ergebnis einer amerikanischen Studie (American Heart Journal, Band 153, S. 74), in der 100.000 Patienten verglichen wurden, die wegen zunehmender Herzprobleme ins Krankenhaus eingeliefert worden waren. Die Wahrscheinlichkeit, den sich verschlechternden Zustand zu überleben, stieg eindeutig mit dem Gewicht der Patienten an. Es stimmt offenbar, was meine Mutter gesagt hat, als sie Nachbarn gegenüber das Gewicht ihres kleinen Sohnes verteidigte, den alle „Dicker“ nannten. „Wenn er mal krank wird, dann hat er was zuzusetzen.“
Stellt sich die Frage, wie man gesund bleibt - aber erst nach dem Essen.
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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