Marlis Alt
Vier Protagonisten des Tanztheaters der Pina Bausch sind nun mit dem deutschen Tanzpreis ausgezeichnet worden, Jo Ann Endicott, Malou Airaudo, Dominique Mercy, Lutz Förster. Doch ein Name fehlt. Marlis Alt. Sie vor allem ist es gewesen, die den Beginn des Tanztheaters wie kein anderer geprägt hat. Doch sie ist 2020 im Alter von siebzig Jahren verstorben, nachdem sie schon 1978 ihre Tanzkarriere beendet hatte.
Es war der 3. Dezember 1975, als ich eine der aufwühlendsten, mitreißendsten Theateraufführungen in meinem Leben gesehen habe, bis heute unvergessen: „Frühlingsopfer“ mit der Musik von „Le Sacre du Printemps“ Igor Strawinskys. Und sie war es, die das Opfer spielte und tanzte. Marlis Alt. Unvergleichlich.
Da fegte eine zarte, fragile junge Frau über die Bretter des Wuppertaler Opernhauses, die indes mit solch einer Wucht die Bühne in Besitz nahm, daß es mir den Atem nahm. Die Furcht aus Bestimmung Opfer sein zu müssen, war ihr ins Gesicht und den ganzen Körper geschrieben, von den bloßen Füßen bis hinein in die Haarspitzen. Wie ein gehetztes Tier, das aber doch ein Mensch, eine Frau ist, umkreiste sie die anderen Frauen und den Maitre des Opferrituals (Jan Minarik), der nur stoisch warten mußte bis sie sich dem Opfertod hingeben würde. Allein schon ihre Mundwinkel, stellvertretend für den Rest des Körpers erzählten von der Verachtung, des „Auserwähltseins“ zum Tode hin. Wie in einem antiken Drama.
Welch eine furiose Expressivität und Verve, mit der sie aufbegehrte gegen die Sinnlosigkeit des Rituals als unschuldig Verurteilte. Eine getanzte Wahnsinnsarie.
Auch in „Herzog Blaubarts Burg“, das Pina Bausch auf die Musik von Béla Bartók 1977 auf die Bühne bringt, spielte Marlis Alt an der Seite Jan Minariks in der Rolle der Judith erneut das Opfer einer sinn- und erbarmungslosen Männer-Welt.
Eine weitere Tänzerin der ersten Jahre des Tanztheaters von Pina Bausch war die Engländerin Vivienne Newport, ein Jahr jünger als Marlis Alt. Sie prägte als Solistin und im Corps de danse Stücke wie „Fritz“, „Iphigenie auf Tauris“, „Sieben Todsünden“, „Herzog Blaubarts Burg“ und „Kontakthof“ entscheidend mit. Doch schon 1981 verließ sie das Ensemble und gründete in Frankfurt ein eigenes Tanztheater. Sie hatte unter Pina Bausch Shakespeares Sonette choreographieren wollen, was aber unter deren Alleinanspruch nicht möglich war.
In Frankfurt inszenierte sie am „Theater am Turm“ zehn Stücke, das Bekannteste trug den Titel „Trigger“, ein komödiantisch melancholisches Werk. Danach hatte sie noch eine kleine Compagnie in Berlin, starb aber im Alter von 61 Jahren 2015 ebendort, unvollendet in Werk und Leben. Auch sie von mir unvergessen.
Jörg Aufenanger
Das Foto stellte freundlicherweise Gert Weigelt zur Verfügung.
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