Der kleine Junge und der Maler
Der Maler saß im Schatten der Platane vor dem Wirtshaus und zeichnete die Dorfstraße mit der kleinen Kirche im Hintergrund. Er zeichnete mit flotten Strichen und sah ab und zu auf, um die Straße mit schief gehaltenem Kopf zu betrachten. Der kleine Junge trat näher und blickte auf das Blatt in den Händen des Malers.
Er grüßte und fragte: „Darf ich ein wenig zuschauen?“
Der Maler blickte auf und sagte: „Ja, aber du mußt ruhig sein. Ich muß mich konzentrieren und Fragen und Bemerkungen stören mich.“
„Ich bin ganz still“, versicherte der kleine Junge und setzte sich auf eine Wirtshausbank in der Nähe.
Der Maler zeichnete weiter, und das Bild nahm rasch Gestalt an. Er war es auch, der das Schweigen unterbrach und fragte „Gefällt dir das Bild? Es ist fast fertig.“
„Ich weiß nicht“, erwiderte der kleine Junge, „die Häuser sind alle so schief und krumm, aber so alt und schäbig sehen die doch nicht aus. Und dann fehlt das neue Haus von Schultes ganz und neben der Kirche steht ein Baum, den es dort gar nicht gibt.“
„Aber ich will die Straße nicht abbilden. Ich will sie nicht darstellen, wie sie ist“, sagte der Maler, „ich benutze sie als Vorlage für ein Bild, das ich dörfliche Szene oder dörfliche Idylle nennen werde. Wenn ich die Straße zeichnen wollte, dann wäre mir das langweilig. Ein Fotograf könnte die Straße besser abbilden.“
Der kleine Junge runzelte die Stirn: „Aber darf man das? Ist das nicht eine Fälschung?“
„Nein“, versetzte der Maler, „ich mache kein Abbild sondern ein Bild. Das ist etwas anderes. Ein Bild ist etwas ganz Neues, etwas Eigenständiges. Das lebt und regt die Fantasie an. Es enthält eine Stimmung, die ich festhalte. Dieses Bild können die Leute lange betrachten und sich mit der Darstellung beschäftigen. Bei einem Abbild würden die Leute sagen: Ach ja, das kennen wir. Das ist die Dorfstraße von Wildenhagen. Und dann wäre die Sache für sie erledigt.“
„Ich glaube, ich verstehe das langsam“, sagte der kleine Junge, „aber wird das Bild auch den Leuten gefallen?“
„Ja, das muß ich erreichen“, sagte der Maler, „dann gefällt es mir auch.“
„Und wirst du das Bild verkaufen?“, fragte der kleine Junge.
„Das will ich!“, bestätigte der Maler. „Ich lebe ja vom Verkauf meiner Bilder.“
„Die rechte Seite auf dem Bild ist ziemlich leer“, meinte der kleine Junge, „wie wäre es, wenn du noch etwas auf die leere Stelle zeichnen würdest, zum Beispiel einen Pferdekarren.“
„Du hast ganz recht. Die rechte Seite ist zu leer“, stimmte der Maler zu. „Deine Idee ist gut.“ Mit schnellen Strichen zeichnete er einen Pferdekarren mit Pferd, und dann noch einen Mann, der das Pferd am Kopf hielt und streichelte.
„Das ist gelungen“, lachte der kleine Junge und klatschte in die Hände.
Der Maler fand das auch und zeichnete noch einige Leute vor die Kirche. Das Bild gewann an Lebendigkeit und gefiel dem kleinen Jungen ausnehmend gut.
„Bravo!“, rief er. Dann verabschiedete er sich und lief in Richtung Kirche, um dort in der Nähe einen Freund zu treffen.
Als er am nächsten Tag wieder die Dorfstraße entlang schlenderte, sah er den Maler an einem Tisch vor dem Wirtshaus sitzen und ein Bier trinken. „Das Bild ist verkauft!“, rief der Maler.
„Ich gratuliere“, lachte der kleine Junge und dann lief er weiter.
© 2023 Joachim Klinger
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