Berliner Notate
Ein Berliner Coiffeur aus Palästina
Der „offizielle“ Kultfriseur Berlins war der vor drei Jahren verstorbene Udo Walz, worüber die FAZ mal sarkastisch schrieb, was für eine Stadt das sei, in der ein Friseur der prominenteste Mensch ist. Der wirkliche Kultfriseur aber ist Mario, der mit echtem Namen Marvan heißt, der aber seine Karriere im Alter von 76 Jahren nun beendet hat, in Ruhestand gegangen ist. Er war nicht nur als Friseur allseits bekannt und geschätzt, sondern auch ein feiner Mensch und ungewöhnlicher Gesprächspartner, denn er hat viel zu erzählen.
Geboren und aufgewachsen ist er in Jerusalem, ist Palästinenser und katholisch getauft. Da kommt schon was Seltenes zusammen.
Nach der Kindheit ist er in früher Jugend von Israel nach Jordanien gegangen und Friseur in Amman geworden. Doch auch von dort ist er weitergezogen nach Athen, wo schon zwei seiner Brüder lebten. Am Meeresstrand traf er auf eine deutsche Touristin, beäugte sie, lief ihr hinter her und verliebte sich in sie. Die Brüder gaben ein Abendessen in ihrem Haus und luden dazu nicht nur Marvan, sondern auch seine Angebetete ein, und so wurden beide bald ein Paar. Sie ging nach Deutschland zurück, sie schrieben einander und schließlich fuhr er in ihr Heimatdorf nahe Bingen, wurde ihren Eltern vorgestellt. Man heiratete.
Doch das junge Paar wollte nicht in der Provinz leben, es zog nach Berlin, ins alte Westberlin. Dort suchte man nicht nur händeringend allerlei Arbeitskräfte, man lockte sie in die Frontstadt mit dem Versprechen einer Berlinzulage, die damals an jeden Werktätigen ausgezahlt wurde. Hinzu kamen andere Vergünstigungen wie Kredite zur Wohnungseinrichtung. Sie fand Arbeit als Krankenschwester, er als Friseur und zwar in einem Salon auf dem Flughafen Tempelhof, dem zu der Zeit aufregendsten Ort der Stadt. Der Palästinenser aus Jerusalem und die Frau aus Rheinland–Pfalz wurden Berliner. Sie führten von nun an ein bürgerliches Leben in Wilmersdorf im Schatten der St. Ludwig-Kirche, wo sie ihrem katholischen Glauben frönten.
In den 1970er Jahren eröffnete Marvan einen eigenen Friseursalon in Charlottenburg, Sybelstrasse, nur für Herren, zu dem er Jahrzehnte lang an fünf Tagen der Woche stets mit dem Fahrrad fahren sollte. Das Auto nutzt er nur sonntags, um mit seiner Frau nach dem Kirchgang einen Ausflug in Berlin zu machen. Nach und nach gewann er in seinem Salon eine illustre Kundschaft, Schauspieler der nahen Schaubühne, Intellektuelle aus allen Sparten. Er war ein aufmerksamer, geduldiger, wißbegieriger, neugieriger Gesprächspartner während er Haare kämmte und schnitt, der eben auch selbst viel zu erzählen hatte. Man nannte ihn Mario, weil nicht jeder seinen arabischen Vornamen im Sinn behalten konnte oder wollte.
Bevor auch ich Marvans - alias Mario - Kunde wurde, hatte ich es stets gehaßt, mit dem Friseur sprechen zu müssen, oft wurde man gar dazu von diesem genötigt. Doch das änderte sich, als ich vor etwa zwanzig Jahren den Weg zu Marvan fand. Wir kamen sofort ins Gespräch. Er erzählte aus seinem bewegten Leben so manchen ungewöhnlichen Moment, aus seiner Jugend vor allem, aber auch aus seinem jetzigem Leben als arabischer Katholik, der sonntags in eine ehemals protestantische, im Szeneviertel nahe Clärchens Ballhaus gelegene Kirche, geht. Die katholische arabische Gemeinde Berlins hatte sich das Gotteshaus gesichtert für ihre Gottesdienste. Marvan singt dort im Kirchenchor orientalische liturgische Lieder, während seine Frau in der Wilmersdorfer St. Ludwigkirche die Messe aufsucht.
Oft haben Marvan und ich über Musik gesprochen, über arabische Sängerinnen. Ich hatte diese schon in Paris gehört und auch eine LP-Sammlung der legendären ägyptischen Sängerin Om Kalsum angelegt, die in allen arabischen Länder gehört und wie eine Göttin verehrt wurde. Doch er wies mich, während ich in seinem Friseursessel saß, auf andere Sängerinnen hin, die vor allem aus dem Libanon stammten. War ich dann wieder zu Hause zurück, hörte ich mir deren Stimmen und Lieder bei Youtube an.
Über politische Themen, die seine alte Heimat betrafen, haben wir selten gesprochen, was ja nicht erst heute interessant wäre. Doch zur deutschen Politik äußerte er sich gelegentlich und vertrat da ein konservatives Weltbild.
Ich und meine Haare vermissen Marvan nun, da er seinen Salon aufgegeben hat, der mit der noch ursprünglichen Einrichtung aus den 1970er Jahren samt heutzutage fast vergessenen Haarmitteln, wie Brisk und Seborin, ein Museum der Haarkunst sein könnte. Und ich zögere zu einem anderen Frisör zu gehen, so daß ich nun viel zu lange Haare habe wie in meiner Jugend. Doch in einer Woche habe ich einen Termin in einem anderen stinknormalen Frisörsalon. Dort werde ich schweigen und an Marvan denken.
© 2023 Jörg Aufenanger
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