Die Liebe zum Geheimnis

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Die Liebe zum Geheimnis
 
In den 1940er Jahren hat Carl Friedrich von Weizsäcker die Menschen darauf hingewiesen, daß die Naturwissenschaften das Geheimnisvolle der Natur nicht aufheben, sondern im Gegenteil vertiefen. Man hätte erwarten können, daß sich jetzt Psychologen an die Frage machen, welche Einstellungen Menschen unter diesen Bedingungen Geheimnissen gegenüber entwickeln, denen in einer aufgeklärten Gesellschaft eigentlich etwas Dunkles und Obskures anhaftet. Doch lange Zeit ließen die Sozialpsychologen dieses Feld veröden, und erst in diesen Tagen konnte man eine wissenschaftlich vorgenommene Untersuchung zu der Frage lesen, warum wir Geheimnisse haben. Wer sich auf dieses Thema einläßt, wird überrascht sein, wie viele Geheimnisse Menschen für sich behalten, und die Reihe reicht von einem Rezept für Tiramisu über hohe Schulden bis hin zu abgebrochenen Schwangerschaften, wobei sich herausstellt, daß es Menschen besser geht, wenn sie schließlich doch jemanden finden, dem sie sich öffnen und mit dem sie ihr Geheimnis teilen können. Aber die Geschichte ist damit noch nicht zu Ende, sie fängt im Gegenteil erst an, und zwar dadurch, daß den Forschern zum einen auffiel, daß es für das Heranwachsen von Kindern wichtig ist, vor ihren Eltern Geheimnisse zu haben, also ein Privatleben zu führen nach den öffentlichen Jahren der Abhängigkeit, und daß Erwachsene Informationen dann als genauer, verläßlicher und wertvoller einschätzen, wenn sie erfahren, daß das, was man ihnen da mitgeteilt hat, eigentlich als Geheimsache unter Verschluß bleiben sollte. Als man eine längst bekannte Akte den Teilnehmern eines psychologischen Experiments als „geheim“ vorlegte, hielten sie die dort zu findende Information für durchdacht und wegweisend, im Gegensatz zu einem ähnlich belanglosen Dokument, das mit „für den allgemeinen Gebrauch“ gekennzeichnet war. Wir wissen es doch alle - was verboten ist, das macht uns gerade scharf, und deshalb versteht man auch, warum Goethe es so sehr darauf angelegt hat, wenigstens ein paar seiner „Zahmen Xenien“ von der Zensur kassiert zu sehen. Der Soziologe Georg Simmel hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ansicht vertreten, daß das Geheimnis zu den größten Errungenschaften der Menschheit gehört, und deshalb gebührt der Dank Martin Luther, der das Wort „Geheimnis“ der deutschen Sprache geschenkt hat, als er die Bibel übersetzte und vor dem „Mysterium“ stand. Sein Geheimnis trägt ein Mensch in sich, und mit ihm kann er sich öffnen.
 
 
© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.