Augenmaß im Arbeitskampf
ver:di will 10,5 Prozent mehr für Landesbeamte
Von Lothar Leuschen
Die Zeit ist reif für große Schlucke aus der Tarifpulle. Die Verhandlungen in den vergangenen Wochen und Monaten haben gezeigt, daß der Arbeitsmarkt in Deutschland ein sehr arbeitnehmerfreundlicher geworden ist. Überall mangelt es an Personal. Dabei geht es nicht allein um Fachkräfte, auch in der Gastronomie, im Einzelhandel, in der Pflege fehlen selbst einfach ausgebildete Frauen und Männer. Den Mangel beklagt seit geraumer Zeit auch der öffentliche Dienst. In den Kommunen wie im Land sind Behörden überlastet, weil Stellen nicht besetzt werden können. Selbst die Aussicht auf den absolut sicheren Arbeitsplatz scheint junge Leute nicht mehr genügend locken zu können. In dieser Situation ist es nur allzu verständlich, dass die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in den Tarifverhandlungen für die Beschäftigten der Länder 10,5 Prozent mehr fordert, mindestens aber sollen es 500 Euro im Monat sein. Bei 2,5 Millionen Arbeitsverhältnissen kämen auf die Länder damit Mehrkosten von 1,25 Milliarden Euro zu. Das ist der Malus an einer auf den ersten Blick vernünftigen Verhandlungsposition.
Denn ganz abgesehen davon, daß auf allen Verwaltungsebenen letztlich jeder Steuerzahler etwaige Mehrkosten für den öffentlichen Dienst trägt, sind die Bundesländer auch durch Versäumnisse der Vergangenheit in vielfacher Weise gefordert. Sei es, dass die Infrastruktur ein Sanierungsfall ist, oder daß die Digitalisierung auch im Jahr 2023 vielerorts noch in den Kinderschuhen steckt. Gleichzeitig sind beispielsweise auch in Nordrhein-Westfalen im Binnenverhältnis mit den Kommunen noch einige Fragen kostspielig zu beantworten. All das könnte den Verhandlern auf der Arbeitgeberseite zu denken geben, muß es aber nicht. Denn die Gewerkschaften haben in erster Linie die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Das macht Verdi mit der Forderung nach mehr Geld. Die Frage ist nur, ob es in Zeiten wie diesen wirklich 10,5 Prozent mehr sein müssen, zumal die Inflation auf dem Rückzug ist. Möglicherweise sind Tarifkonflikte schneller zu beenden, wenn alle Beteiligten im Arbeitskampf Augenmaß wahren. Der Kommentar erschienen am 7. November in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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