Die Schweigespirale
In den 1980er Jahren hat die große Dame der Meinungsforschung, die bis zu ihrem Tod in Allensbach am Bodensee tätige Elisabeth Noelle-Neumann, ein Buch mit dem Titel „Die Schweigespirale“ geschrieben, in dem sie so etwas wie eine Theorie der öffentlichen Meinung zu entwickeln versuchte. Es ging und geht natürlich genauer um die Theorie der veröffentlichten Meinung, und Frau Noelle-Neumann meinte beobachtet zu haben, daß Menschen dann zögern oder Hemmungen entwickeln, ihre Ansichten zu bestimmten umstrittenen Themen - dem Asyl für Flüchtlinge, der militärischen Stärkung Europas, den Lügen und Eskapaden des amerikanischen Präsidenten - publik zu machen und zu vertreten, wenn es ein allgemeines Meinungsklima gibt, die den eigenen Überzeugungen gegenübersteht. Auf diese Weise sorgt die Vielfalt der Medien nicht für eine Vielfalt der Meinungen, sondern im Gegenteil für ein Verstummen mancher Stimmen, das sich mit der zunehmenden Vorherrschaft einer Ansicht fortsetzt, bis man zuletzt Hamlet zitieren muß, „Der Rest ist Schweigen.“ Die Kommunikationswissenschaftlerin vom Bodensee führte für diesen Prozess den schon genannten schönen Ausdruck der Schweigespirale ein, und wer meint, daß sich in den letzten Jahrzehnten mit den sozialen Medien und den massenhaften Blogs daran etwas geändert hat, scheint falsch zu liegen. Die Schweigespirale regiert auch das Netz, das heißt, die Bereitschaft vieler Menschen, sich rückhaltlos zu ihrer Meinung in der Öffentlichkeit zu bekennen, schwindet zusehends, wenn die vertretene Auffassung von der formulierten und im Netz zirkulierenden Mehrheitsmeinung deutlich abweicht. Zwar könnte man leicht der Ansicht sein, daß mit dem Internet die Menschen noch sie so frei waren, ihre Überzeugungen zu äußern und unter das Volk zu bringen. Aber offenbar wächst zugleich auch die Angst, in eine Ecke gestellt und von einem Shitstorm überrannt zu werden. Es ist wie in den Zeiten der Aufklärung im 18. Jahrhundert, als der Preußenkönig meinte, man könne dem dummen Volk ruhig etwas vorlügen und vormachen, denn die meisten seien zu träge, um sich den Schwierigkeiten zu stellen, die zum Erwerb von Wissen gehören. Eine Meinung zu begründen, macht ebenfalls Mühe, und sie gegen die Mehrheit zu vertreten braucht heute so viel Mut wie damals. Die Schweigespirale hilft der Demokratie nicht weiter. Sie muß durchbrochen werden. Oder schaut im Netz niemand mehr hin, wo eine andere Meinung steht?
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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