Kein Gefühl
Regierungserklärung des Kanzlers
Von Lothar Leuschen
Es mag hanseatische Mentalität sein, daß Menschen wie Olaf Scholz nicht aus sich herausgehen können. Und auch ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland braucht an seiner Spitze natürlich keine Führungskraft, deren erste Kompetenz es ist, Zwerchfelle und Tränendrüsen bedienen zu können. Aber in Zeiten wie diesen darf es gern schon etwas mehr Gefühl sein, mehr Entschlossenheit, mehr Anzeichen von Tatkraft, auch mehr Selbsterkenntnis. Diese Chance hat Bundeskanzler Olaf Scholz am Dienstag mit seiner Regierungserklärung verpaßt. Wieder einmal. Dabei wäre es diesmal womöglich wichtiger denn je gewesen, den Menschen zu vermitteln, daß die Schwierigkeiten tatsächlich erkannt sind, und das aus dieser Erkenntnis ein Plan entwickelt wurde, der das Zeug hat, Zuversicht zu entfachen. Doch dafür gab es keine Anzeichen. Scholz hat vielmehr den Versuch unternommen, die Republik mit Beruhigungsformeln zu sedieren. Das Bafög ist sicher, das Kindergeld ist sicher, das Wohngeld ist sicher, die Rente natürlich auch. Dabei hat daran vermutlich auch niemand gezweifelt. Was viele Menschen allerdings empfinden, ist Unsicherheit mit Blick auf die Zukunft. Der Staat und seine Gesellschaft erwecken nicht erst nach Eintritt der Haushaltskrise, aber dadurch umso mehr den Eindruck, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein, die in den nächsten Jahrzehnten auf die immer noch viertgrößte Volkswirtschaft der Welt zukommen werden. Die Transformation hin zur notwendigen Klimaneutralität ist dabei nur eine Hürde. Die Sozialsysteme drohen zu kollabieren, dem Bildungssystem werden regelmäßig seine Schwächen attestiert, die Infrastruktur ist in beinahe jeder Hinsicht ein einziger Torso.
Auf diese Fragen hätte Scholz eingehen sollen, selbst wenn er heute darauf noch keine Antworten haben kann. Es hätte aber wenigstens das Gefühl vermittelt, daß die Spitze der politischen Kaste die Zeichen der Zeit erkannt hat. Stattdessen legte der Kanzler seinem potentiellen Herausforderer den Ball auf den Elfmeterpunkt und schickte den Torhüter in die Kabine. Den Strafstoß konnte dann selbst der eigentlich knorrige Friedrich Merz sicher verwandeln, und das sogar mit Gefühl. Der Kommentar erschien am 29. November in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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