Was ist Leben?
In dunkler Zeit - genauer im Jahre 1943 - hat der aus Wien stammende und im Exil in Dublin lebende Nobelpreisträger für Physik mit Namen Erwin Schrödinger Vorlesungen gehalten, in denen er mit den Augen seiner Disziplin die zumeist von Biologen oder Philosophen gestellte Frage „Was ist Leben?“ erörterte und zu beantworten versuchte. Schrödinger wußte, daß er sich als Physiker der Gefahr aussetzte, bei Analysen der Genetik Fehler zu begehen und sich lächerlich zu machen, und viele seiner Kollegen haben ihm dies laut und deutlich vorgeworfen. Tatsächlich kann derjenige, der danach sucht, bei Schrödinger viele Irrtümer aufspüren, aber das hat dem Text nicht geschadet. Im Gegenteil! Gerade die Balance des leicht Fehlerhaften mit dem Lächerlichen macht den Reiz des Büchleins von Schrödinger aus, in dem seine Vorlesungen gedruckt wurden und das nach wie vor gelesen wird, wobei zu erwähnen ist, daß sich durch sein Erscheinen und nach entsprechender Lektüre viele Physiker anregen ließen, nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Disziplin zu verlassen und sich dem Leben und seiner Erforschung zuzuwenden. Albert Einstein wird der Satz zugeschrieben, daß Phantasie wichtiger ist als Wissen, und Schrödingers Vorlesungen glänzen durch phantasievolle Vorschläge des Autors, der offen zugibt, nicht viel zu wissen und Angst hat, ausgelacht zu werden. Wie sehr Schrödingers Mut in der Gegenwart fehlt, zeigte im September 2018 eine Tagung in Dublin, als die Iren den 75. Geburtstag von Schrödingers Vorlesungen aus den dunklen Jahren des Zweiten Weltkriegs feiern wollten und dabei sorgfältig darauf achteten, daß Genetiker über Genetik, Biochemiker über Biochemie, Hirnforscher über Hirnforschung und so weiter sprachen. Alle produzierten ihr spezielles Wissen und sprachen über die Köpfe der Anwesenden hinweg. So wollte man zwar die Gefahr vermeiden, sich wie Schrödinger lächerlich zu machen, erreichte aber das genaue Gegenteil. Die Experten vorne auf der Bühne wirkten wie Witzfiguren, die zwar ihr Fach zu beherrschen schienen - wer wollte das schon wissen? -, dabei aber das Thema verfehlten, das Schrödinger mit seinem „Was ist Leben?“ vorgegeben hatte. Übrigens - nach den Vorlesungen hat sich der Physiker in ein Mädchen verliebt und danach noch besser gewußt, was Leben ist. Schrödinger meinte seine Nächte mit ihr. Das Leben ist tatsächlich mehr als die Ansammlung von Fachwissen. Vielleicht hört es gerade damit auf.
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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