Krieg ist …

Zum Jahreswechsel 2023/24

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Ryszard Kopczynski
Krieg ist …
 
Zum Jahreswechsel 2023/24
 
Von Michael Zeller
 
Ich bin geboren worden, keine Frage. Aber ich wurde im falschen Jahr geboren und am falschen Ort – Ende 1944, auf der Grenze zwischen Deutschland und Polen. Ich mußte meinen Weg finden aus diesem Krieg im Herzen Europas, und zwar allein.
Krieg ist der Zusammenbruch aller menschlichen Werte.
Langsam ging ich voran, Schritt für Schritt, mit großer Vorsicht. Niemand war da, von dem ich einen Fingerzeig angenommen hätte. Oft genug habe ich die Orientierung verloren, mußte immer wieder die Richtung ändern.
Doch dadurch ist mir mein Weg vollkommen vertraut geworden. Jeden Zentimeter, ob er richtig war oder falsch, kenne ich in- und auswendig. Dafür stehe ich gerade, bis heute. Niemand sonst. Es gilt keine Entschuldigung.
 
Auf der anderen Seite habe ich natürlich auch jede überpersönliche Haftung hinter mir gelassen: sei es für einen Staat oder eine Nation. Der Weg dorthin war lang und steinig. Ein paar Jahrzehnte habe ich gebraucht, bis ich das bißchen Platz gefunden hatte für meine zwei Füße und ihre allernächsten Schritte. Er ist da, wo ich gerade bin.
Aber Ihre Sprache? fragen Sie, vollkommen zu Recht.
Ich schreibe auf Deutsch und werde das tun, solange ich lebe. Das ist die Luft, die ich atme. Die deutsche Sprache ist meine erste Liebe und meine letzte. Sie ist mein Spielzeug und mein Handwerksgerät. Sie ist die Musik meiner Seele, wo immer ich sie höre: ob in Köln, in Krakau, auf Coney Island oder in Tel Aviv. Ohne meine Sprache bliebe mir nichts.
Was ich Ihnen zeigen wollte: Ich lebe in einer Welt, die ich mir selbst baue, Tag für Tag, und die Worte meiner Sprache, ein menschlicher Dialekt, sind meine Planeten. Sie sind um mich an allen Plätzen, die ich mir suche. Langsam, Schritt für Schritt und immer vorsichtig, bewege ich mich darauf zu, wie ich das als Kind gelernt habe.
 
So bin ich ständig unterwegs und schreibe. Das ist meine Philosophie. Das ist meine Politik.
Und das ist mein Widerstand gegen die Welt, so wie sie ist.
Manchmal, muß ich Ihnen gestehen, bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich ein Wesen bin aus Fleisch und Blut und mit einer Nationalhymne. Oder nicht doch eine Fiktion meines Schreibens, ein Papiertiger. Oder ein Drache. Eine Grille.
 
Doch wie ich Ihnen am Anfang sagte: Ich bin geboren worden, offensichtlich. Ich kann Ihnen meinen Paß zeigen, wenn Sie mir nicht glauben wollen. Da sind ein paar Stempel drin und die offizielle Bestätigung, daß ich während des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, auf der Grenze zwischen Polen und Deutschland.
 
Krieg ist der Zusammenbruch aller menschlichen Werte.
Außer für Dichter.
Wir sind die letzten, die sich erinnern und erzählen, was passiert ist. Also greifen wir’s an. Gleich. Für morgen.

*

Das ist nicht jetzt geschrieben, im zweiten Jahr des russischen Krieges gegen die Ukraine.
Der Text entstand vor gut zwanzig Jahren, im Spätsommer 2002, in Iowa City, USA. Ich war Teilnehmer des International Writing Program der dortigen Universität. Im amerikanischen Fernsehen wurde auf allen Kanälen propagandistisch für den Krieg gegen den Irak aufgerüstet, wie ich das in meinem Leben noch nicht erlebt hatte, über die drei Monate hinweg, die ich mich dort aufhielt.
Die Rede, natürlich auf Englisch, war der Hilfeschrei eines Deutschen, eines Europäers.
Nie hätte ich es damals für möglich gehalten, daß unser kriegsgeschundener Kontinent noch einmal Schauplatz eines Krieges werden könnte.
 
© 2002/2023 Michael Zeller